Aus dem nagelneuen Röhrenradio schmeichelt die Bariton-Stimme „Meine Welt ist bunt“. Vater sitzt auf dem Sofa und blickt auf rot, gelb und blau bezogene Polstersessel mit Armlehnen aus lackiertem Holz. Die Stehlampe verströmt gemütliches Licht aus bunten, tütenförmigen Schirmen an dünnen, biegsamen Armen. Vater hat sogar farbige Glühbirnen eingeschraubt. „Meine Welt ist bunt“ refraint es samtig aus dem erst kürzlich angeschafften Loewe Opta. „Der hat ja so recht, der Fred Bertelmann“, denkt Vater und wagt es, die Füße auf dem nierenförmigen Couchtisch abzulegen. Mutter sieht's ja nicht. Die klappert in der Küche mit dem Geschirr, umgeben von bunten Resopal-Oberflächen. „Farbige Oberflächen waren damals modern“, sagt Wolfgang Sasse, Leiter des Rauch Museums in Freudenberg am Main (siehe Kasten).
Ihren Namen verdanken die 50er Jahre indes Vaters Nierentisch: Nierentisch-Zeit. Auch runde Formen waren ein Kennzeichen des Möbeldesigns. Dass die Welt im trauten Heim so bunt und rund war, hatte Gründe. Gerade Möbeldesign – vor allem das alltäglicher, massenhaft hergestellter Stücke – sagt viel über die Befindlichkeiten einer Zeit aus. Besonders deutlich in den 1950er Jahren.
Lieber keine Kanten!
Es ist, als wollte man vermeiden, sich an irgendwelchen Kanten zu stoßen. Selbst bei den beliebten dreieckigen Tischchen waren die Seiten nicht gerade und die Ecken nicht zackig: Die Form war harmlos gerundet. Auch die Farben waren nicht schmerzhaft schrill, wie sie später in den Siebzigern sein sollten, sondern pastellen. Rundliche Tische und beruhigend dezentfarbiges Polstergestühl wurden so zu sichtbaren Zeichen einer Abkehr von Starrheit, Linientreue und weltanschaulichem Graubraun des Nationalsozialismus. Auch mit der bunten, runden Welt im trauten Heim verdrängte Deutschland das Trauma der jüngere Vergangenheit und die Tatsache, dass man einen Krieg angezettelt und Millionen Menschen auf dem Gewissen hatte. Im farbigen Licht der Tütenlampe sah sogar die Tatsache freundlicher aus, dass ein „Großteil der Bevölkerung“ im Nazisystem mitfunktioniert hatte, wie die Bundeszentrale für politische Bildung im Internet schreibt.
„Denk' ich an Capri, dann denk' ich auch an Tina“ behauptet Fred Bertelmann nun. Vater denkt zwar nicht an Capri wo angeblich – ein anderer Schlager, den er gerne hört – „die rote Sonne im Meer versinkt“. Aber Urlaub im Schwarzwald ist schon drin. Denn er – und nicht nur er – hat's in den letzten Jahren zu was gebracht: Die Zweizimmer-Altbauwohnung ist richtig hübsch. Dass das Plumpsklo draußen an der Treppe zum Hinterhof liegt, stört ihn kaum. Und dass an der Fassade zur Straße der Putz bröckelt – na und? Vor nicht allzu langer Zeit lag ganz Deutschland noch in Schutt und Asche . . .
Die Wirtschaft läuft rund
Jetzt läuft die Wirtschaft rund. Die Lohntüte wird immer dicker. 1950 verdient der Durchschnittsdeutsche jährlich 3161 Mark brutto. Zehn Jahre später mit 6101 Mark fast das Doppelte. Auf der fränkischen Dorfkirchweih kostet anno '55 der Liter Vollbier 1,30 Mark („inkl. Bedienungszuschlag“). Für das Schlafzimmer Modell „Jubilar“ – Doppelbett, Schrank, Nachttischchen und Polsterstühle – von der Möbelfabrik Wendelin Rauch & Sohn, Freudenberg, hat Vater 340 Mark gezahlt. Viel Geld. Doch Vater ist optimistisch: Das Wirtschaftswunder wird schon noch eine Weile anhalten.
Fred Bertelmann lacht melodisch (und irgendwie rund) aus dem Röhrenradio. Sogar Obdachlose können in diesen Zeiten lachen, lautet die Botschaft des Schlagers „Der lachende Vagabund“. Vater ist durchaus bereit, das zu glauben, weil: Wer will, kann im 50er-Jahre-Deutschland auch arbeiten. Jobs gibt's genug. Im Jahr 1960 beträgt die Arbeitslosenquote gerade mal 1,3 Prozent. Dass es auch im Wirtschaftswunder Verlierer gibt, die nichts zu lachen haben, wird gern verdrängt.
Dass Mutter in der Küche werkelt, und von Fred Bertelmann und dem fabelhaften Klang des Loewe-Opta-Röhrenradios kaum was mitkriegt, findet der Vater (mit den Füßen auf dem Nierentisch) völlig in Ordnung. Die Frau hat am Herd zu stehen und für den Gatten und die Kinder zu sorgen, denkt nicht nur er. Auch die Werbung transportiert dieses Bild. „Autoritäre Wertmuster“ in Ehe, Familie und Schule seien in den Fünfzigern gesellschaftlicher Konsens gewesen schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung.
Heute steht der Durchschnittsdeutsche besser da als sein Vorfahr in den angeblich so tollen Fünfzigern. Er hat die bessere medizinische Versorgung, die höhere Lebenserwartung, er kann sich mehr leisten. Vater hatte zwar einen Nierentisch, um die Füße abzulegen. Aber Auto, Fernseher oder Flugreisen waren nicht drin. Und Krieg kennen die meisten Deutschen heute nur vom Hörensagen. Wer sich trotzdem nach dem Idyll unter der Tütenlampe sehnt, kann ins Museum gehen oder sich einen Nierentisch und bunte Sessel kaufen. Und Fred Bertelmann gibt's auf Youtube. Probleme löst der Rückzug ins Idyll indes nicht. Zu keiner Zeit. Da mögen die Ecken noch so rund sein.
Die Fünfziger im Museum
Odenwälder Freilandmuseum Gottersdorf (Stadtteil von Walldürn): 16 Häuser aus dem 17. bis 20. Jahrhundert.
Rauch Museum Freudenberg/Main: Design-Geschichte des 20. Jahrhunderts in Einzelstücken und kompletten Zimmern. Darunter ein Schlafzimmer aus den Fünfzigern. Öffnungszeiten: Mittwoch, Sonntag 14-17 Uhr. Die Fünfziger und Sechziger sollen im Herbst in einer Sonderausstellung gewürdigt werden. Die Rauch-Möbelwerke, Betreiber des Museums, suchen noch nach Exponaten. Fotos von passeenden Stücken an: info@rauchmuseum.de hele