
Schon das hat etwas Beunruhigendes. Denn eigentlich will man diesen Leuten gar nicht so nah sein. Zumindest nicht, ohne sie etwas besser zu kennen. Aber das ändert sich schnell. Wir lernen diese Menschen sehr, sehr gut kennen. Verschachtelte Rückblenden stellen uns die Kerngruppe vor, die Meinungsführer um Jack, die Aktiven, die Interessanten, die Attraktiven (witzigerweise beschweren sich immer wieder Randfiguren, sie würden nicht in wichtige Entscheidungen eingebunden – ein selbstironischer Gruß der Autoren).
Immer wieder bekommen wir neue Puzzleteile des Vorlebens der Helden hingeworfen, und nach jeder Rückblende erscheint ihr Schicksal wieder in ganz anderem Licht. Niemand ist auf dieser Insel ohne Ballast gestrandet – seelischen, familiären, finanziellen, kriminellen. Das vielleicht Faszinierendste an „Lost“ (USA 2004 – 2010, bei uns derzeit auf Pro7Fun und Sixx) ist die Fähigkeit der Autoren, einen riesigen Personalstand mit lauter interessanten Hauptrollen sinnvoll und spannend zu verwalten – neben Jack sind das weit mehr als ein Dutzend Männer und Frauen, die alle hochkomplexe Lebensgeschichten mitbringen, die auch noch aufs Virtuoseste miteinander verknüpft sind. „Lost“ war und ist bei den Fans Kult – so sehr, dass die Drehbuchautoren sogar unbeliebte Figuren sterben ließen.
Der Begriff „sinnvoll“ ist hier allerdings ausdrücklich unter der Prämisse zu verstehen, dass „Lost“ eine Mystery-Serie ist. Es passieren jede Menge Dinge, die zwar im „Lost“-Universum plausibel, aber nicht wirklich mit den Erkenntnissen der Schulphysik vereinbar sind. Da gibt es ein Rauchmonster, das nur die tötet, die Angst zeigen. Oder es irgendwie verdienen. Da spazieren Eisbären, Vollbluthengste und auch mal Menschen, die gar nicht hier sein dürften, durch den Dschungel. Da gibt es ein Bunkersystem voll altertümlicher Elektronik, das offenbar vor langer Zeit aufgegeben wurde. Oder doch nicht? Und da gibt es „die Anderen“. Eine Gruppe von Vollzeitinsulanern, die eine Art alternative Gesellschaft mit ziemlich archaischen Regeln aufgebaut haben. Ihnen fehlt es an nichts, allerdings denken sie nicht daran, den Gestrandeten Hilfe anzubieten. Im Gegenteil: Sie betrachten die Neuankömmlinge als Vertreter einer verrohten, unmenschlichen und vor allem überwundenen Zivilisation. Dennoch zeigen sie ein beunruhigendes Interesse an einzelnen Überlebenden, vor allem an Kindern.
Wohltuenderweise hält sich „Lost“ nicht sehr mit „Herr der Fliegen“-Überlegungen auf (literarische Anspielungen gibt es allerdings zuhauf). Natürlich stellt sich die Frage, wie Menschen sich organisieren, wie sie einander behandeln, wenn die Ressourcen knapp sind und sie sich permanent in Lebensgefahr wähnen. Aber viel interessanter ist, wie sich die Schicksale der Figuren entfalten. Denn offenbar ist niemand aus Zufall hier gelandet, und offenbar hat die Insel mit jedem etwas vor. Jeder bekommt ein neues Leben, wenn er denn bereit ist, es anzunehmen.
Der sympathische Neurochirurg Jack, der sich geweigert hat, einen tödlichen Kunstfehler seines betrunkenen Vaters, ebenfalls Neurochirurg, zu vertuschen. Kate (Evangeline Lilly), die ihren Schläger und Säufer von Vater gleich ganz in die Luft gesprengt hat und seither auf der Flucht ist. John (Terry O'Quinn), der in seinem Vorleben nur ausgenutzt wurde und sich nun zu einer Art Psycho-Trapper entwickelt. Sawyer (Josh Holloway), der Berufsbetrüger, der sich höchst widerwillig als moralisches Wesen entpuppt. Das koreanische Ehepaar Sun (Kim Yun-Jin) und Jin (Daniel Dae Kim), für das der Crash zum Crashkurs in Sachen Partnerschaft wird. Oder Hurley (Jorge Garcia), der im Lotto gewonnen hat und sich seither unter einem Fluch wähnt. Seit er Multimillionär ist, stößt den Menschen um ihn herum Schlimmes zu. Zum Beispiel ein Flugzeugabsturz.
Das ist eines der schönsten Details von „Lost“. Hurley hat mit den Zahlen 4, 8, 15, 16, 23, 42 gewonnen. Seine Mutter (Vater/Mutter-Kind-Beziehungen spielen eine zentrale Rolle) hatte ihn, den isolierten Übergewichtigen mit imaginären Freunden, in die Psychiatrie eingewiesen. In der Klinik brabbelte ein Autist diese Zahlen dauernd vor sich hin. Sie tauchen in der Serie immer wieder auf. In der Nummer des Unglücksflugs, als Rückennummern von Cheerleadern und vor allem auf der Luke des geheimnisvollen Bunkers im Dschungel. Es gibt Internet-Seiten, die sich ausschließlich der Symbolik der „Lost“-Zahlen widmen.
„Lost“ funktioniert auf vielen Ebenen: auf der Ebene der Beziehungen (liebt Kate nun Jack oder Sawyer?), der Abenteuer-Ebene (wie behaupten sich die Gestrandeten, was geht auf dieser Insel vor?) und der Mystery-Ebene (wo kommen die Eisbären her, was hat es mit dem Monster und dem Riesenmagneten auf sich?). Die Mystery-Ebene gibt der Serie diese wohlig-bedrückende Atmosphäre drohenden Unheils. Und die ist das Vergrößerungsglas, unter dem wir die überraschend komplexen Charaktere der Figuren betrachten.
„Lost“, gedreht auf Hawaii, ist nicht nur hochspannend bis zur Suchtgefahr, dramaturgisch und psychologisch immer wieder überraschend, sondern auch witzig und erfrischend unromantisch. Die Insel ist eine riesige Spielwiese für den entfesselten Ideenreichtum der Autoren um das Regieduo Jeffrey Abrams und Jack Bender. Ihnen ist es gelungen, sechs Staffeln lang permanent Neues zu enthüllen und dennoch erst zum Schluss das große Geheimnis zu verraten. Bis heute wird in Online-Foren diskutiert, ob die Auflösung etwas taugt. Es lohnt sich jedenfalls, das selbst herauszufinden.