Man glaubt fast, sie riechen zu können. Die längst vergangene Zeit, aus der das kleine Büchlein stammt, das auf dem Schreibtisch von Andreas Haug liegt. Der Würzburger Musikwissenschaftler hat das in abgenutztes Leder gebundene Dokument aus seinem Safe geholt und die Schutzhülle entfernt. Er blättert es behutsam auf und streicht über die hauchdünnen, mit brauner und roter Tinte beschriebenen Seiten aus Pergament. „Dieses Stück ist die einzige Originalhandschrift in unserer Sammlung. Sie ist relativ spät entstanden. Es handelt sich um ein Notenbuch mit Prozessionsgesängen und stammt aus dem beginnenden 14. Jahrhundert. Es stammt aus Vich in Nordspanien. Es ist sozusagen unser Hauskodex hier, der auch in Seminaren unseren Studentinnen und Studenten zur Veranschaulichung gezeigt wird.“
Andreas Haug ist Inhaber des Lehrstuhls für Musikforschung des vorneuzeitlichen Europas an der Universität Würzburg. Der Professor leitet ein gewaltiges Forschungsprojekt mit dem Namen „corpus monodicum“. In einem schier endlos erscheinenden Zeitraum von 16 Jahren soll eine vollständige Sammlung lateinischer Musik des Mittelalters erschlossen werden, sollen die Geheimnisse der alten Notenschrift gelüftet werden. Es wird ausschließlich Vokalmusik (also Gesang ohne Begleitung von Instrumenten) untersucht. Denn im Mittelalter galt Instrumentalmusik im Gottesdienst als heidnisch und war verboten.
Das Projekt wird von Bund und Land mit rund vier Millionen Euro gefördert. „Ermöglicht wurde das Ganze unter dem Dach der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur im Rahmen des deutschlandweiten Akademienprogramms. Wir haben das Projekt in einem Bewerbungsverfahren ergattert. Jetzt ist Würzburg der zentrale Standort für ein internationales Forschungsprojekt.“ Warum die Arbeitsstelle an die Uni Würzburg ging, ist schnell erklärt: Seit der Fusion mit Teilen der musikwissenschaftlichen Institute in Erlangen und Bamberg ist in Würzburg das Bruno-Stäblein-Archiv angesiedelt. Über 4200 mittelalterliche Musikhandschriften aus über 300 Bibliotheken in 18 Ländern sind auf Schwarz-Weiß-Mikrofilmen archiviert. Es ist eine weltweit einzigartige Sammlung. Dieser Vorzug hat den Würzburger Lehrstuhl für Musikwissenschaften für das Projekt prädestiniert. Die dafür vorgesehene Zeitspanne ist nötig, um die Masse an Dokumenten herauszugeben. Die Arbeit des Forschungsteams, das aus sechs Wissenschaftlern besteht, geht aber nicht im stillen Kämmerlein vonstatten. Die Dokumente aus den Filmen des Archivs müssen teilweise auch vor Ort in den großen Museen in London, Paris oder München untersucht werden. Es herrscht reger Austausch mit Wissenschaftlern aus aller Welt. „Wir haben regelmäßig Gäste aus dem Ausland am Institut, die mit uns arbeiten wollen oder wegen unseres Archivs kommen“, erzählt Haug. Außerdem steht ihm ein Beirat zur Seite, in dem Wissenschaftler aus fünf Ländern vertreten sind.
Doch mit der „bloßen“ Sammlung und Veröffentlichung der mittelalterlichen Noten ist es nicht getan. Ein Problem, an dem Haug und sein Team arbeiten, formuliert der Forscher folgendermaßen: „Die Technik, Melodieverläufe durch Notenlinien genauer zu definieren, ist noch gar nicht so alt. Sie kam im 11. Jahrhundert auf, breitete sich aber nur langsam aus. In ihren Anfängen wurden die Linien nur ins Pergament eingeritzt.“
Er deutet auf kaum sichtbare Linien der Fotokopie einer mittelalterlichen Notenschrift. „Aus älteren Handschriften ohne Notenlinien können wir keine genauen Tonstufen ablesen, sondern nur die Tonbewegung. Haben wir nun das gleiche Musikstück in späterer Liniennotation und alter linienloser Notenschrift, dann lassen sich daraus interessante Informationen gewinnen und im Idealfall die alte Notation sozusagen entschlüsseln.“ Das „corpus monodicum“ erforscht Grundlagen der Musik. Aber nicht nur für die Musikwissenschaftler an der Universität sind die geplanten 25 Bände der Edition als Basis ihrer Forschung von Bedeutung. Hier werde ein Erbe zugänglich gemacht, das die Kultur Europas seit der Karolingerzeit entscheidend mitgeprägt hat, wirbt Haug.