Eine Abtreibungsärztin als Hauptfigur eines Romans dürfte eine Neuheit in der Literatur sein. Der chinesische Autor Mo Yan hat die staatliche Ein-Kind-Politik und ihre Folgen für die Landbevölkerung 2009 in seinem Roman „Frösche“ thematisiert, der nun nach vier Jahren auf Deutsch erscheint. „Frösche“ ist einerseits ein für die Verhältnisse der chinesischen Zensur sehr offenes Buch über das blutige Geschäft der Zwangsabtreibungen – andererseits ein Versuch der Selbstrechtfertigung. „Wenn andere sich eines Verbrechens schuldig machen, bin ich mitschuldig“, schreibt der Literatur-Nobelpreisträger.
Literatur ist in China seit Urzeiten ein politisches Unterfangen, und „Frösche“ ist ein politisches Buch, wie es Mo Yan selbst in seinem Nachwort anspricht. Die Werke chinesischer Autoren werden sowohl in China selbst als auch im Ausland einer doppelten Kritik unterzogen: der politischen und der literarischen. Seit Konfuzius' Lebzeiten herrscht in einer durch die Jahrtausende ungebrochenen Traditionslinie der chinesischen Eliten die Auffassung vor, die Literatur habe vornehmlich eine moralisch-pädagogische Aufgabe: die Erziehung des Volkes und die Beförderung von Patriotismus und guten Sitten.
In China läuft daher jeder Autor Gefahr, in die Ecke des unpatriotischen Nestbeschmutzers gestellt zu werden, wenn er die herrschenden Verhältnisse kritisiert. Die chinesische Literaturszene verlange von den Schriftstellern, heikle Themen anzusprechen – „aber wenn der Autor sich heiklen Fragen widmet, ist er der Kritik ausgesetzt, und man rügt ihn der Liebedienerei gegenüber dem Westen“, beschreibt Mo Yan das Dilemma. Westliche Kritiker ordnen Literaten, die sich mit der Partei arrangieren, ohnehin gern in die Ecke der systemtreuen Hofdichter ein. Der 57-Jährige gibt zu, dass er politischen Kontroversen in China lange aus dem Weg ging: „Eine Zeit lang habe ich mir alle Mühe gegeben, nirgendwo anzuecken, denn ich fürchtete die Peitsche der ewig Selbstgerechten.“
Hauptfigur des Buches ist die Frauenärztin Gugu, eine Modellkommunistin, der Revolution und der Partei treu ergeben. Der Roman zeichnet ihren Weg von den frühen 50er Jahren bis ins neue Jahrtausend nach. Gugu beginnt ihre Laufbahn als Geburtshelferin, die den Kampf gegen die abergläubischen Quacksalberinnen aufnimmt, die früher auf dem Land in China für ungezählte Todesfälle bei Geburten verantwortlich waren. Sie entwickelt sich zur desillusionierten Abtreibungsärztin, die Hunderten von Ehepaaren ihre ungeborenen Kinder nimmt.
Ein vieldeutiger Begriff
Gugu hat ein reales Vorbild in einer Tante Mo Yans. Auch sonst hat die Geschichte einen autobiografischen Hintergrund: „Ich habe, um meiner eigenen Zukunft willen, meine Frau zu einer Abtreibung gedrängt“, sagte der einstige Berufsoffizier Mo Yan dem „Spiegel“. „Ich bin schuldig.“
Der Titel basiert auf einem nicht übersetzbaren Wortspiel: „Frosch“ – wa – ist im Chinesischen ein vieldeutiger Begriff. Ein Frosch ist einerseits eine essbare Delikatesse, andererseits glitschig und eklig. Ein gleichlautendes Wort bedeutet niedlicher Säugling, eine Puppe und auch die Schöpfungsgöttin Nü-Wa. So schwingt im Begriff des Säuglings etwas von einem widerlichen Frosch mit. Literarisch ist „Frösche“ ein von der westlichen Moderne inspiriertes Buch mit verschiedenen Erzählebenen. Ich-Erzähler Kaulquappe berichtet einem befreundeten japanischen Autor in Briefen über die Lebensgeschichte seiner Tante, bevor er diesem ein Theaterstück mit Gugu in der Hauptrolle zur Begutachtung zusendet.
Gugu, der Ich-Erzähler Kaulquappe – und durch ihn Mo Yan – sprechen die Missstände offen an. Es darf vermutet werden, dass ein weniger prominenter Autor dieses Buch in China nicht hätte veröffentlichen dürfen. Die Einsortierung in ein simples Schwarz-Weiß-Schema von Dissidenten und Hofdichtern will bei Mo Yan nicht so recht gelingen.
Mo Yan: Frösche (Hanser, 507 Seiten, 24,90 Euro).