Es geschah an einem Frühlingstag 1961. Keith Richards, ein von der Mama verzogener Arbeiterjunge ohne Schulabschluss, und Mick Jagger, Spross einer Mittelklassefamilie und Student an der London School of Economics, sahen sich zum ersten Mal auf dem Bahnsteig von Dartfort. Jagger hatte zwei Alben unterm Arm, Chicagoer Blues Labels, Richards war neidisch. Weil die beiden aus unterschiedlichen sozialen Klassen kamen, wäre es üblicherweise nie zum Kontakt gekommen. Doch die 18-Jährigen gerieten auf der Zugfahrt in ein Gespräch, jeder war vom anderen und dessen Begeisterung für den Blues angetan.
Sie taten sich zusammen in der Band Little Boy Blue and the Blue Boys, die ersten Auftritte waren verheißungsvoll. Bald nannten sie sich Rolling Stones, nach einem Muddy-Waters-Song. 1964 landeten sie mit „Little Red Rooster“, einem reinen Bluessong, zum ersten Mal auf Platz eins der britischen Charts – eine Weltkarriere begann.
55 Jahre später – Jagger und Richards sind 73 – arbeiten sie am neuen Album. Zur Auflockerung spielt man ein paar alte Bluessongs. Richards simmt „Blue And Lonsome“ an, den Klassiker von Little Walter. Plötzlich scheint alles so wie früher zu sein, und die Rolling Stones beschließen spontan, ein archaisches Blues-Album zu machen. Die Band, die viel versucht hat, durch Rock, Punk, Funk, Disco, Reggae und Psychedelia mäanderte, ist zu ihren Ursprüngen zurückgekehrt.
Mick Jagger hat sogar seine alte Mundharmonika wieder ausgegraben, mit dicken Lippen und heißem Hauch beatmet er sie. Und er, der nie so recht Lust hatte auf ein Instrument, ist gut darauf.
„Blue & Lonesome“, das 23. Studioalbum der Rolling Stones, ist ihr Erstes, auf dem keine Eigenkomposition zu hören ist. Die zwölf Stücke stammen von Buddy Johnson, Howlin? Wolf, Memphis Slim, Magic Sam, Little Walter, Miles Grayson/Lermon Horton, Edie Taylor, Otis Hicks/Jerry West, Ewart G. Abner/Jimmy Reed und Willie Dixon. Weil Keith Richards Finger schon gichtig sind, hat die Band Eric Clapton um Beistand gebeten, er spielt die Gitarre bei zwei Songs. Das Album ist das erste neue seit elf Jahren („Bigger Bang“), 2017 soll das Album mit neuen eigenen Songs fertiggestellt werden.
Die Blues-Covers wurden weitgehend live eingespielt und angeblich nicht nachbearbeitet. Die Sessions dauerten lediglich drei Tage. Es quietscht und krächzt, die Gitarren sind zeitweise verstimmt, die Stones erscheinen so ungehobelt wie in den Sechzigern. Jagger jault und bellt an seiner Mundharmonika wie in seinen besten Tagen und er heult den Mond an. Es geht immer noch um Liebe und ihre Verfehlung.
Die Stones legten ihre in den letzten Jahren übliche Routine ab und spielten einfach drauflos. Dass sie sich so ins Zeug legten, hat man lange nicht mehr erlebt, sie klingen so frisch wie in ihren ersten Jahren. Die Neuinterpretationen kommen verspielt und sinnlich rüber, es sind rasante Zwölftakter. Ungeschliffen, roh, aber leidenschaftlich. Eine Hommage an den klassischen Chicago-Blues, der in den 1950er Jahre populär wurde.
Die Rolling Stones haben nie verschwiegen, wem sie ihre entscheidenden Anstöße verdanken. Die Rock-Opas sind am Ende einer langen Reise wieder an ihrem Ausgangspunkt angekommen. Und das alles nur, weil Keith Richards und Mick Jagger einst im Zug über den Blues ins Gespräch kamen.