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BAD KISSINGEN
Menahem Pressler, begnadeter Mittler zwischen den Jahrhunderten
Siggi Seuß
 |  aktualisiert: 03.12.2019 10:34 Uhr

Legende: „Person, die so bekannt geworden ist, dass sich bereits zahlreiche Legenden um sie gebildet haben.“ Sagt der Duden. Menahem Pressler ist eine solche Legende, ein lebende. Im Vergleich zu anderen lebenden Legenden ist er jedoch noch ungemein lebendig. Wenn der 94-Jährige als weltweit ältester Konzertpianist die ersten Takte anschlägt – wie nun bei seinem Solo-Recital im Kissinger Rossinisaal –, dann glaubt man bald, dass manch halb so alter Künstler, der noch an seiner Legende bastelt, weit weniger lebendig wirkt als der Gründer des berühmten Beaux Arts Trios.

„Wenn ich unterrichte, fühle ich mich wie 40, spiele ich, fühle ich mich wie 50“

Bevor uns Pressler in die musikalische Welt entführt – mit Mozart, Schumann, Debussy und Chopin –, muss hier noch ein vielzitierter Satz aus dem Munde des Künstlers stehen, der die leichte Irritation des Publikums relativiert, wenn er, am Stock gestützt und von zwei Damen auf die Bühne geführt, am Steinway platziert wird: „Wenn ich unterrichte, fühle ich mich wie 40, spiele ich, fühle ich mich wie 50, aber wenn ich die Treppe hochsteige, dann merke ich, wie alt ich bin.“

Ab dem Augenblick, an dem er am Flügel sitzt, zählt das Alter, zählt der Schmerz, zählt der alltägliche Existenzkampf nicht mehr. Da wird der Pianist eins mit seiner lebenslangen Mission: Den aufmerksamen Menschen einen Weg direkt in den musikalischen Kosmos des jeweiligen Schöpfers eines Werkes zu ebnen. Pressler inszeniert sich nicht – wie viele Künstler nachfolgender Generationen –, er möchte nicht mehr und nicht weniger sein als ein glaubwürdiger Mittler zwischen den Welten. Fast verschwindet er hinter seinem Instrument und hinter seinem Auftrag. Ganz anders als andere Ikonen seiner Zunft.

Ihm gelingt es, vollkommen in den Hintergrund zu treten

Als vor mehr als zwei Jahrzehnten der weltberühmte Svjatoslav Richter im Regentenbau konzertierte – in einem völlig abgedunkelten Saal –, da war er eben nicht nur ein begnadeter Mittler, er wurde in den Köpfen der Zuhörer auch zum Denkmal seiner selbst. Und wenn heute Grigory Sokolov konzertiert und förmlich versucht, mit seinem Flügel eins zu werden, dann ist er – der ungeheuren medialen Aufmerksamkeit geschuldet – immer auch die Ikone Sokolov. Ganz anders Menahem Pressler. Ihm gelingt es, tatsächlich völlig in den Hintergrund zu treten. Vielleicht auch deshalb, weil er sich im Abschnitt eines biblisch langen Lebens befindet, in dem man nur unendliche Dankbarkeit empfindet, ein solch wunderbares Künstlerdasein führen zu dürfen.

Die Such nach biografischen Spuren in den Interpretationen des Künstlers

Natürlich versucht man als musikalischer Dilettant immer wieder, biografische Spuren des Künstlers in seinen Interpretationen zu finden. Ja, vielleicht im unprätentiösen, ins Werk vertiefte Spiel, das nur ein überreich lebenserfahrener Mensch wie Pressler so virtuos beherrschen kann. Vielleicht in der bedächtigen Langsamkeit, die auf kleinste Nuancen achtet in Debussys „Reverie“. Vielleicht im leichten Anklang augenzwinkernder Melancholie in Schumanns „Kinderszenen“. Vielleicht im nahezu spielerischen, ja versöhnlich wirkenden Miteinander von tröstlichen und tragischen Momenten in der c-Moll-Fantasie. Mozart komponierte sie als 29-Jähriger. Pressler interpretiert sie als 94-Jähriger – der Tragödie seines frühen Lebens wohl bewusst. 1939 machte sich der gebürtige Magdeburger als 16-Jähriger im Hafen von Triest mit dem letzten Fluchtschiff auf den Weg nach Palästina – auf den Weg in eine völlig neue Welt.

Spekulationen, die vor dem Ereignis zurücktreten, einem begnadeten Künstler zwischen den Jahrhunderten begegnet zu sein. Wahrscheinlich der letzten lebenden Legende ihrer Art.

 
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