Es geschah im Park hinter dem Theater. Intendant Ansgar Haag spazierte mit seinem Generalmusikdirektor Richtung Bahnhof. Ein älterer Herr sprach die beiden an. Er wolle sich bedanken, sagte er auf Englisch. Er habe schon befürchtet, er müsse sterben, ohne Richard Wagners „Das Liebesverbot“ gesehen zu haben. Dann sei er im Internet auf die Aufführung am Meininger Theater gestoßen. Sofort habe er Flugtickets besorgt und die Vorstellung besucht. Jetzt sei er auf dem Heimweg. Der Wagner-Fan war aus Philadelphia im US-Bundesstaat Pennsylvania angereist . . .
Ansgar Haag erzählt die Episode gerne. „So etwas“, freut sich der Intendant, „passiert Ihnen nur in Meiningen.“ Denn das Meininger Theater hat eine Sonderstellung in der deutschen Theaterlandschaft. Die hat mit der Tradition des Hauses zu tun. Und mit seiner geografischen Lage „in der Einsamkeit des Thüringer Waldes“, wie Haag das nennt. Der 56-Jährige leitet das Südthüringische Staatstheater in der ehemaligen Residenzstadt seit sechs Jahren.
Es klingt liebevoll, wie Haag das mit der Einsamkeit sagt – doch die macht auch Probleme. Das Meininger Theater hält im Großen Haus knapp 800 Plätze bereit, die Kammerspiele bieten 250. In einer Stadt mit 20 000 Einwohnern wollen die erst einmal gefüllt werden. Das größenmäßig vergleichbare Würzburger Mainfranken Theater steht in einer Stadt mit über 133 000 Einwohnern – und mitten in einem dicht besiedelten Landkreis. Selbst hier ist es nicht immer einfach, ausreichend Publikum zu locken. In Meiningen gelingt das dank eines Spagats, den der Intendant und sein Team bei jeder Spielzeitplanung bewältigen müssen. Man fährt zweigleisig: Im Großen Haus setzt Ansgar Haag auf Fern-Tourismus. „Da braucht man Projekte wie samstags ,Faust I‘, sonntagnachmittags ,Faust II‘, und zwischendrin eine Übernachtung“, weiß er. In dieser Saison gibt es das „Theaterdoppel“ mit Shakespeares „Maß für Maß“ und Richard Wagners „Liebesverbot“, das auf der Shakespeare-Komödie fußt.
Überhaupt Wagner. Die großformatigen Werke des Komponisten, der enge Beziehungen mit dem Meininger Theater pflegte, tauchen regelmäßig im Spielplan auf. Schon 2001 hatte das Haus international Aufsehen erregt, als es den „Ring des Nibelungen“ an vier aufeinanderfolgenden Abenden stemmte, was sich nicht einmal die Bayreuther Festspiele trauen. Im Wagner-Jubiläumsjahr 2013 hat „Tristan und Isolde“ Premiere. „Tannhäuser“ und „Liebesverbot“ werden wieder aufgenommen.
Große Projekte allesamt. Man packt sie einfach an – vielleicht ist auch das etwas, was es so nur in Meiningen gibt. Es scheint zu funktionieren: „Es gibt keine Bühne dieser Größe, die Richard Strauss' ,Salome‘ und ,Elektra‘ in einer Saison spielt“, sagt Haag. Die Meininger hatten den Mumm. Dank Kontakten zu Reiseveranstaltern und Busunternehmen auch im Ausland wird das Angebot der Thüringer unters kulturreisewillige Volk gebracht. Der Tourist will, so Ansgar Haag, „die Weimarer Klassik sehen – Goethe, Schiller – oder eine Waldoper.“ Das boomt: Den „Freischütz“, eine dieser „Waldopern“, habe man in fünf Jahren 47-mal ausverkauft, mit den beiden „Faust“-Teilen habe man 57 000 Besucher erreicht, freut sich der Theatermann. Ein Großteil kam von außerhalb, oft per Bus. Die Autobahn, welche die „Einsamkeit des Thüringer Walds“ seit einigen Jahren besser erschließt, soll den Theatertourismus weiter stärken, ebenso wie die Klimaanlage, die nach der 17-monatigen aufwendigen Restaurierung seit dieser Saison arbeitet und den reich verzierten Theatersaal kommoder macht.
Bei allem Tourismus: „Wir sind auch fürs hiesige Publikum da“, sagt Haag. Das kommt zum Gutteil aus dem nördlichen Franken und hat zwar nichts gegen Goethe, Schiller und Wagner. Aber es will zum Beispiel auch Operette sehen. „Eine opulent ausgestattete Operette ist, sagen wir mal, 25-mal ausverkauft – normalerweise“, rechnet Haag. Doch auch das ist in Meiningen anders. Weil Städtchen und Umland, einerseits, nicht genug potenzielles Publikum bieten und sich, andererseits, „keiner wegen einer Operette in Frankfurt in den Bus setzt und drei Stunden hierher fährt“, weiß Haag. Also gibt es Operette nicht in jeder Saison und: Das heimische Publikum wird in den Kammerspielen bedient. Selbst das ist etwas anders strukturiert als in anderen Theaterstädten. Zumindest die Älteren, die noch in der DDR groß wurden, kennen andere – womöglich mehr – klassische Stücke als die „Wessis“ und möchten die auch sehen. Zudem müssen junge Leute bedient werden – dieses Problem ist freilich nicht Meiningen-spezifisch.
Meiningen-spezifisch ist die Sache mit der Tradition. Das 1831 als Herzogliches Hoftheater eröffnete Haus gilt als Wiege des Regie-Theaters. Ein negativ besetzter Begriff, weil sich da ein Regisseur über den Willen des Autors hinwegsetzt, um seine eigenen Ideen in den Vordergrund zu stellen. Jedenfalls glaubt das mancher Theatergänger. Historisch gesehen bedeutet Regietheater nichts anderes, als dass Georg II. (1826 bis 1914), der „Theaterherzog“, einen „Sekundärkünstler“ einführte, der das Spiel auf der Bühne vom Zuschauerraum aus organisierte. Bis dahin hatten das die Dichter selbst getan. Die Meininger Idee machte Furore. Heute geht am Theater und auch beim Film ohne Regisseure nichts – weltweit.
Die Tradition fortzuführen bedeutet für Ansgar Haag, der auch selbst inszeniert, dass der Regisseur hinter das Stück zurücktritt. Gedanken machen soll er sich schon: Ein Regiekonzept brauche eine politische Absicht, „in einer Demokratie, die gefährdet ist, nicht nur, aber in erster Linie durch Neonazis und einen wuchernden Kapitalismus“. Es geht darum, alte Stücke so zu zeigen, dass sie dem Menschen von heute aktuell erscheinen. Der Theaterherzog hatte es mit der Aktualität leichter. Er zeigt vor allem Zeitgenössisches, in damals moderner Form. Haag: „Würde Georg II. heute leben, er würde mit Videos arbeiten, mit Internet, er würde moderne Literatur und zeitgenössische Musik aufführen.“ Solch einen radikalen Spielplan wagt heute kein Theaterleiter – auch nicht in Meiningen.
Ansgar Haag scheint nicht unglücklich mit all den Meininger Herausforderungen, die er vom Theater Ulm – das er ab Mitte der 1990er Jahre leitete – nicht kannte („da war's viel, viel leichter“). Immerhin zieht das Theater über 170 000 Zuschauer pro Saison in die „Einsamkeit des Thüringer Waldes“. Gut 30 000 mehr als zuletzt ins gar nicht so einsam gelegene Würzburger Theater fanden.
Das Meininger Theater
Das Große Haus – es gilt als letzter neoklassizistischer Theaterbau – wurde nach 17-monatiger Renovierung (Kosten: 23,35 Millionen Euro) am 10. Dezember 2011 mit Wagners Frühwerk „Das Liebesverbot“ wiedereröffnet. Der Spielplan bietet – auch in den Kammerspielen – etwa Kleists „Amphytrion“, Schillers „Die Jungfrau von Orléans“ oder das Ballett „Schwanensee“. Das Musical „20 000 Meilen unter dem Meer“ nach Jules Verne ist eine Uraufführung. Eine Besonderheit ist die Sparte Puppentheater. Kontinuierlich werden Stücke angeboten. Als Staatstheater wird der 15-Millionen-Etat zu etwa 80 Prozent vom Land Thüringen finanziert. Den Rest teilen sich die Stadt Meiningen und der Landkreis Schmalkalden-Meiningen. Bekannte Gastregisseure kamen immer wieder ans Theater. Unter anderem inszenierten Loriot, Klaus Maria Brandauer, Ephraim Kishon, Rolf Hochhuth, Werner Schneyder und August Everding in Meiningen. Internet: www.das-meininger-theater.de Theaterkasse: Tel. (0 36 93) 451-222