„Das Sterben hat jetzt angefangen“, schreibt Martin Walser. „Das Leben hat sich aus mir zurückgezogen. Wer gibt der Hülle den Rest?“ Viel lieber lebte er das Leben als Lebendiger, aber immer stoße er auf das Gebot, auf den Tod als Toter zu warten. Abfinden damit will er sich nicht. „Ich hänge an mir. Ich gebe mich so ungern auf. Ich weiß es jetzt, ich hoffe noch auf mich.“ Allein das Schreiben hält ihn mit 91 Jahren in dieser Welt. „Lass mich, was es nicht gibt, erfinden/ bei gelöschtem Licht die Augen schließen,/ Schöneres als Vergessen gibt es nicht,/ ich schlüpf aus den Schuhen der Erinnerung/ und erfinde Schmetterlinge aus Blei.“
Es ist schon beeindruckend, mit welcher Besessenheit Martin Walser gegen den Tod anschreibt. Mit seinem neuen Gedichtband „Spätdienst“ hat er sich selbst ein Requiem komponiert. Er kostet die Süße der Todesidee wie etwas, woran er nicht glaubt. Knüpft das Ende der Schnüre zusammen und überhört die Proteste aller Enden. Im einen Moment fleht er noch: „Schlagt mich tot, Leut,/ nicht morgen, heut,/ sonst muss ich es selber tun/ und dann bei den Selbstmördern ruhn.“ Um im nächsten sich sogleich zu korrigieren: „Lass mich bis zur Grenze der Wörtlichkeit weiterleben, verpflegen mich/ mit Stille, ich kenne mich sowieso schon aus in der Unerfüllbarkeit eines/ jeden erdenklichen Wunsches.“ Zum Stillsitzen verdammt, blickt er aus seinem Haus in Überlingen auf den Bodensee und auf die Berge am anderen Ufer. Schaut den tanzenden Blättern im Wind zu, die nicht wissen, dass sie im Fallen sind.
Schreibt er sich selber aus der Welt?
Mag er einem mit seinen sonderlichen Altersromanen („Muttersohn“, 2011; „Ein sterbender Mann“, 2016) auch Nerven gekostet haben. Die Leichtigkeit, mit der Martin Walser in seinen Prosagedichten das nahende Ende umspielt, sucht ihresgleichen. Mit dem gleichen Narzissmus, der ihn durch sein Leben getragen hat, inszeniert sich Martin Walser selbst und seinen Kampf gegen die „Ermüdungsschwere“. „Organisation des Sterbens“ nennt er das. „Ich widme mich meinem Zerfall, ich feiere mein Vergehen.“ Wie der Kapitän eines sinkenden Schiffs trägt Walser, pflichterfüllt bis zuletzt, seinen Untergang ins Logbuch ein. Es ist faszinierend, was für starke Bilder er dem Thema abringt. „Mich ergreift die Eitelkeit/ der Wolken, die den Augenblick/ beherrschen wie für immer/ und dabei schon vergehen.“
Politik interessiert ihn nicht mehr. Wo er sich früher echauffierte, wie bei seiner Paulskirchen-Rede, gibt er sich heute altersmilde. Einer Kirche gehört er lang nicht mehr an. „Der Himmel ist der Spiegel, in den/ meine Seele schaut und nichts sieht.“ Wenn er jemanden anruft, ist er froh, wenn der nicht abnimmt.
Wie schon den bezaubernden Gedichtband „Das geschundene Tier“ (2007) hat Walser auch das neue Buch mit Tochter Alissa zusammen gemacht, die diesmal Arabesken gezeichnet hat, die wie Flügelschläge der erwähnten „Schmetterlinge aus Blei“ anmuten. Auch an seine großartige Meßmer-Trilogie erinnern die bewegenden neuen Verse. Hier schreibt sich einer aus der Welt und gibt die Melodie vor: „Steine, Gräber ohne Tote,/ der Himmel, das ewige Leichentuch, mein Mund, der Altar/ für mein Requiem.“
Martin Walser: Spätdienst. Gedichte. Rowohlt, 208 Seiten, 20 Euro