Katja Brunner: Mut hat es vielleicht gebraucht, es ging mir aber gar nicht darum, dass es ein heikles Thema sein kann. Viel eher ging es mir darum, dass man sich gemeinhin den Umgang damit erleichtert, indem man klare Täter- und Opferkategorien herstellt. Beispiel Fritzl: Da habe ich – gerade in der medialen Darstellung – das personifizierte Böse und kann mich zurücklehnen. Den verachte ich, der ist nicht wie ich, so ein Scheusal lässt sich weit weghalten. So ist es aber in der Realität nicht. Sonst würde es nicht so viele Fälle sexueller Kindesmisshandlung geben, und sonst würde nicht so sehr darüber geschwiegen.
Brunner: Ich denke, es ist wichtig, genau dort zu graben, wo sonst gerne zugeschaufelt wird. Tabus generieren in meinem Kopf Ausrufezeichen und Fragezeichen und dann eine hartnäckige Neugierde: Warum wird denn ausgerechnet da so gerne so arg zugeschaufelt? In Bezug auf mein Stück stünde da die Frage: Sind unsere Verhaltensweisen wirklich im Sinne des sogenannten Opfers? Inwiefern profitieren wir von Opfer- und Täterkategorien?
Brunner: Ich fürchte und glaube und denke auf eine empathische Weise, die nicht verurteilen will, sondern Fragen stellen, zur differenzierten Auseinandersetzung anregen bestenfalls. Das sexuell misshandelte Mädchen bzw. die Frau steht stark im Fokus, denn normalerweise kommt sie kaum zu Wort, wird mundlos gehalten.
Brunner: Sie machen uns eine Auseinandersetzung oft zu einfach. Wenn Opfer und Täter immer so klar erkennbar und benennbar sind, dann weiß man, wen man verteufeln muss: das „personifizierte Böse“, dem das reine Unschuldige gegenübergestellt ist. Dass sexuelle Kindesmisshandlung häufiger in Familien stattfindet als in institutionellem Rahmen, wird dabei ausgeblendet. Die „Täter“ sind ja für ein schutzbefohlenes Kind als solche nicht erkennbar. Das gebannte Böse, zu dem kann man sich schließlich immer klar verhalten.
Brunner: Das wäre ein gefährlicher Trugschluss. Für mich ist das Fundament, das Veränderungen katalysiert, Empathie. Obschon der Täter oder die Täterin nicht der böse schwarze Mann ist, der aus den Büschen springt – was man zuletzt hören will, ist, dass das Kind dies aushält, vielleicht gar „kooperativ“ mitmacht, weil es in einer Ambivalenz feststeckt: Es wird misshandelt, aber trotzdem ist es der eigentlich liebe Onkel mit den lustigen Locken, der das macht, der ihm sicher nichts Böses will, der das sogar ganz liebevoll angeht und dem Kind eine Konspiration aus Liebe vorgaukelt. Dass eben solche Vorgänge gedeckelt werden, weil das Kind sich selber eine Mitschuld suggeriert, weil ihm die Mitschuld vom Täter, der Täterin suggeriert wird, weil es bis heute kaum Aufklärung in Schulen darüber gibt. In der Kinderwelt außerhalb der Wahrnehmung des betroffenen Kindes existiert es gar nicht, hat es nicht zu existieren. Diese Ambivalenz, generiert durch einen physisch gewaltlosen Übergriff, verkleidet als Zärtlichkeit, schien mir in unserer Gesellschaft ein Tabu zu sein.
Brunner: Definitiv. Das Schweigen befördert das Schweigen, nicht? Es scheint derart verankert in unseren Verhaltensweisen zu sein, dass das Erzeugen von Scham ganze Themenfelder wegsperren kann, dessen Folgen Menschen wiederum jahrelang psychisch belasten, sexuelle Gewalt überhaupt – insbesondere an Kindern – scheint mir eines davon zu sein.
Brunner: Mich hat eine Art künstlerischer Forschergeist angetrieben und das Bedürfnis, ein angeblich heikles Thema möglichst panoptisch zu zeigen; in die Gefühlswelten aller „Beteiligten“ (Mutter, Vater, Kind) einzusteigen, um den Machtmissbrauch aussprechbarer zu machen und weniger leicht dämonisierbar. Ist er weniger dämonisiert, ist er näher an uns allen, ist er also schwieriger von sich wegzuhalten. Nicht, dass Identifikation mit dem Täter Wunder herbeiführt, nein. Er kommt im Stück auch nie zu Wort. Zu Wort kommen vor allem und zu Recht die weiblichen Betroffenen in ihren ambivalenten Schilderungen des Tatbestandes.
Brunner: Ja, den hatte ich. Den haben wir alle, auch wir, die vermeintlich draußen stehen. Ich sage nur: Eines von vier Kindern gehört zu diesen Betroffenen. Keine zoologisch zu begutachtende Seltenheit also, sondern ein erheblicher Teil unserer Gesellschaft.
Brunner: Das Fach habe ich nicht gewechselt. Die Sprache holt mich immer wieder ein, sie ist einfach wissender und schneller als ich. Solange ich eine innere Notwendigkeit zum Ausdruck in oder mit Sprache empfinde, kann ich anständig existieren. Ich glaube, das ist eine Geschichte, die man sich gerne erzählt: jung am Erfolg zerbrochen und so weiter. Klingt hinreißend, passiert deshalb nicht ständig.
Brunner: Zurzeit arbeite ich an einem Stück für das Theater Luzern, wo ich diese Saison Hausautorin bin, es wird ein Stück, welches Altern und den demografischen Wandel thematisiert. Darin geht es um Geister, Neoliberalismus und Jugendwahn. Stellen Sie sich vor, es wird gespenstisch, riecht nach Desinfektion und Kotze, es brennt, sprengt und beißt.
Brunner: Damit halte ich es wie beim Sport: Mal fällt ein Ergebnis so aus, mal so. Wobei der Sport wohl noch den Vorteil hat, dass er objektiver messbar ist als die Künste. Eigentlich möchte ich schlicht dem Rechnung tragen, was mich interessiert, umtreibt, als relevant befällt. Das ist der Luxus des Schreibens, finde ich: versuchen aufzuspüren, welche Empfindungsgerinnsel im Kopf der Gesellschaft bald zu Krankheiten führen. Natürlich hat der Luxus seine Kehrseiten, denn es gibt Erfreulicheres. Irgendwie landet man immer eher auf der Schattenseite.
Katja Brunner
Katja Brunner, 1991 in Zürich geboren, studierte Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste in Bern und Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin. 2010 schrieb sie „Von den Beinen zu kurz“, für das sie 2013 den Mülheimer Dramatikerpreis bekam. Derzeit ist sie Hausautorin am Theater Luzern. Am 29. Januar hat ihr Stück „Von den Beinen zu kurz“ in einer Inszenierung von Katka Schroth Premiere am Würzburger Mainfranken Theater.