
Es dient ja nur der guten musikalischen Sache, wenn ein Dirigent beim Gespräch über die hohe Kunst des Orchesterleitens ins Schwärmen gerät. Wenn er die Zehnte von Mahler als leidenschaftlichste Einspielung seines großen Vorbilds Claudio Abbado preist. Wenn er minutenlang über die sinnvoll gewählten Tempi in Mozarts Requiem reden möchte, seinem Lieblingsstück. Wenn er Carlos Kleiber zum „Maßstab“ erklärt und dem Gesprächspartner dringend rät, sich bitt’schön auf „YouTube“ Kleibers „Rosenkavalier“ vom 23. März 1994 an der Wiener Staatsoper via Dirigentenkamera anzuschauen – ja, das gibt es. „So entspannt, trotzdem präzise und mit dem Sinn für die großen Linien“, sagt Sebastian Beckedorf: „Ich habe nie Besseres gesehen.“
Claudia Abbado, Carlos Kleiber und der große Herbert von Karajan: Das sind die Namen, die der neue Erste Kapellmeister des Würzburger Mainfranken Theaters als Hauptfiguren seiner Inspiration nennt – eher die Klassiker des Genres und keine jüngeren Wilden, wie etwa Simon Rattle einer wäre. Doch passt diese Vorbilder-Reihe durchaus zu Beckedorf, der erstmal als solider, moderater Typ daherkommt, als musikversessen akribischer Arbeiter, nicht unbedingt extravagant: „Meine Art sollen andere beurteilen.“
Das Dirigieren ward ihm nicht zuvorderst in die Wiege gelegt, die Mutter war Krankenschwester, der Vater Ingenieur, der Bruder wurde dies auch. Dass schon der fünfjährige Sebastian seine heutige Profession als Berufswunsch angab – na ja, Bubenträume halt. Wie viele Kinder aus gutem Hause lernte der anno 1977 Geborene zwar ziemlich gut und gerne Klavierspielen, entdeckte Chopin, Liszt und Brahms, damals in Winsen an der Luhe, das zumindest Udo-Lindenberg-Fans seit der „Dröhnland-Symphonie“ von 1978 ein Begriff ist und laut dem Ex-Winsener eh niemand kennt: „Schreiben Sie besser bei Hamburg!“ Mit dem Musikwissenschafts-Studium in der Hansestadt hatte nach dem Abitur aber keiner in der Familie ernsthaft gerechnet.
Die dort vermittelte, reine akademische Musiktheorie alleine wurde dem Musikus derweil nach vier Semestern bald zu viel, sodass er den ebenso praktischen wie kühnen Plan fasste, Dirigent werden zu wollen. Um es tatsächlich werden zu können, wechselte das Nordlicht zur Musikhochschule Rostock, wo Beckedorf mit dem von ihm verehrten Christfried Göckeritz einen strengen, fordernden, fördernden Lehrer fand. „Er meinte, er würde nicht verstehen, wie jemand so verkrampft sein könne“, erinnert sich der Neu-Würzburger lächelnd: „Da ich so ausschließlich vom Piano kam, war mir Dirigieren anfangs fremd.“
Doch rasch stellte sich das lockerere Händchen ein, ging es voran – und im Jahre 2004 zur ersten richtigen Stelle als Solorepetitor am Theater in Hildesheim, sprich: Der Neue spielte Klavier, wenn das Orchester oder die Schauspieler ein Stück einübten. Richtig erfolgreich voran kam Sebastian Beckedorf in den neun Jahren ab 2005 sodann am Staatstheater in Braunschweig, wo er erstmals Erster Kapellmeister wurde, als Stellvertreter von Generalmusikdirektor Alexander Joel, einem Halbbruder von US-Poprocker Billy Joel. „Doch sind neun Jahre dauernd an einem Theater ziemlich viel“, blickt der 37-Jährige zurück: „Es war an der Zeit weiterzukommen.“
Beckedorf schaute sich um, bewarb sich in Würzburg, probedirigierte hier „Don Giovanni“ – was als Aufgabenstellung eine Herzensangelegenheit war: „Denn Mozart ist der Größte der Musikhistorie und bedeutet mir persönlich am meisten. Keiner ist als Genie universaler, Bach war trotz seiner weiteren großen Werke letzten Endes doch eher aufs Feld der Kirchenmusik beschränkt“.
In der Stadt des Mozartfestes klappte es bestens mit der Mozart-Oper; seit Beginn dieser Spielzeit ist der Niedersachse und Süddeutschland-Neuling nun als Erster Kapellmeister auch neuer „Vize“ von Generalmusikdirektor Enrico Calesso: „Es herrscht eine angenehme Atmosphäre mit ihm. Ich habe den Eindruck, er betrachtet mich nicht aus der Chefposition, sondern als Kollegen und Stellvertreter.“
In der Zweitrolle betritt er bei „Madame Butterfly“, „Dornröschen“, „The Rake’s Progress“ und der ab Januar folgenden „Carmen“ den Orchestergraben; gänzlich eigenständig wird er ab 6. Dezember den „Zigeunerbaron“ sowie ab März „Fidelio“ leiten – nebst den diversen Familien- und Jugendkonzerten. Die Hörerschaft darf sich auf bedingte Tempomaße einstellen, die weniger dem Zeitgeist entsprechen – obacht, hier spricht der Klassiker: „Mein persönlicher Geschmack sind frische, aber nicht überzogene Tempi, ich muss nicht so schnell wie möglich spielen. Außer vielleicht bei Rossini.“ Lediglich sein pianistisches Können bringt Beckedorf nicht freiwillig ein: „Ganz ehrlich, dazu reicht es nicht mehr.“
Ein hinreichendes Bild hat er, trotz einer noch fehlenden netten City-Wohnung, unterdessen von seiner neuen Heimat gewonnen: „Würzburg ist sehr lebendig. Beim ersten Besuch hatte ich zwar den Eindruck, das Theater müsse saniert werden, aber intern klappt’s wunderbar. Es ist toll, hier zu sein.“ Bloß an den allseits beliebten Frankenwein muss sich Cola-Trinker Beckedorf gewöhnen – für einen Federweißen-Abend, immerhin, hat’s schon gereicht: „Ich habe nicht so viel getrunken, um Kopfweh gehabt zu haben.“ In der Tat, dieser Kapellmeister gehört zur wilden Sorte nicht. Foto: Ivana Biscan