„Willkommen – Güllen grüsst Kläri“. Über die gesamte Bühnenbreite und –höhe spannt sich das Transparent zur Begrüßung der alten Dame. Und will uns sagen: „Güllen ist überall!“ Ist dieser Satz doch heute noch gültiger als im Jahr 1956, dem Jahr der Uraufführung von „Der Besuch der alten Dame“. Und wie die jüngste Inszenierung am Mainfranken Theater Würzburg beweist, hat der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt damit einen zeitlos aktuellen Klassiker geschaffen.
Sind es doch längst nicht nur Kleinstädte in strukturschwachen Randgebieten, die hoch verschuldet sind. Sondern immer mehr auch Mittel- und Großstädte, die sich durch marode Infrastruktur, sanierungsbedürftige Schulen und verwahrloste Industriebrachen auszeichnen und die dringend auf eine Milliardärin wie die alte Dame Claire Zachanassian warten.
Einst, vor 30 Jahren, hat sie ihren Geburtsort Güllen verlassen, jetzt kehrt sie zurück und will ihren bankrotten Heimatort mit einer Milliarde unterstützen. Als einzige Gegenleistung fordert sie den Tod von Alfred Ill, ihrem ehemaligen Geliebten und Vater ihres verstorbenen Kindes.
Regisseur Martin Kindervater hat den Text leicht verschlankt, lässt manche Darsteller des nahezu runderneuerten Schauspielensembles gleich mehrere Figuren spielen, andere Nebenfiguren sind ganz gestrichen, was der gesamten Handlung deutlich mehr Tempo und Wucht verleiht.
Gesteigert wird die Dynamik immer wieder durch die Live-Klänge von Schlagwerker Tobias Schirmer, der mit seinen selbst gebauten Objekt-Instrumenten der Inszenierung einen eigenen metallischen Sound verleiht, der zwischen breiten Geräuschflächen wie den an Güllen vorbeirasenden Zügen und dezenten ironischen Apercus wie dem Klingelton an Alfred Ills Ladentür oszilliert.
Der Krämerladen von Alfred Ill, von Ausstatterin Sina Babra Gentsch mit wenigen, leicht beweglichen Holzelementen angedeutet, ist das Gravitationszentrum der Inszenierung.
Hier werden die Auswirkungen des unmoralischen Angebots der Milliardärin (Maria Brendel verleiht alle Facetten einer kapriziös-schillernden Diva) sichtbar; hier zeigt sich, wie wenig die moralische Empörung wert ist, mit der die Güllener dieses Angebot zunächst zurückweisen.
Dies wird Ill (Stefan Lorch legt ein furioses Würzburg-Debüt hin) geradezu schockhaft klar, als auch seine Frau (auch in einer reinen Sprechrolle gewohnt überzeugend: Barbara Schöller) und Tochter (mit einem starken Comeback zurück im Ensemble: Christina Theresa
Motsch) sich auf Pump neu kleiden und plötzlich sogar ein Auto besitzen.
Besonders ausgeprägt verkörpert den Gesinnungswandel der aalglatte Bürgermeister, den Anton Koelbl (ebenfalls ein Ensemble-Neuzugang) mit spielerischer Beiläufigkeit vom vermeintlich aufrechten Demokraten zum opportunistischen Rechtsverdreher mutieren lässt, dass es einem Angst und Bange werden kann.
Kein Wunder, dass auch der Rest an verbliebener Bürgerlichkeit in Gestalt des Lehrers (Bastian Bayer), des Polizisten und des Pfarrers (beides Steffen Lehmitz) flugs die Seiten wechselt. Und so am Ende Claire Zachanassians These von der Käuflichkeit der Moral und der Gerechtigkeit zur Wahrheit verhelfen: „Anständig ist nur, wer zahlt, und ich zahle. Güllen für einen Mord, Konjunktur für eine Leiche.“ Keiner wehrt sich, niemand leistet Widerstand. Alle machen mit. Ein erschreckender Spiegel, in den uns Martin Kindervater mit seiner fein austarierten und jederzeit packenden Inszenierung blicken lässt.
Nächste Vorstellungen: 12., 14,. 16., 20. Oktober, jeweils 19.30 Uhr. Karten telefonisch unter Tel. (09 31) 39 08-124 oder per E-Mail: karten@mainfrankentheater.de