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WÜRZBURG
Linolschnitt, der peinliche Verwandte
Magisch flimmerndes Licht: „Shop“, Linolschnitt von Vojtìch Kováøik im XXL-Format (aus der Ausstellung im Würzburger Museum im Kulturspeicher).
Foto: (c) Vojtìch Kováøik | Magisch flimmerndes Licht: „Shop“, Linolschnitt von Vojtìch Kováøik im XXL-Format (aus der Ausstellung im Würzburger Museum im Kulturspeicher).
Ralph Heringlehner
Ralph Heringlehner
 |  aktualisiert: 03.12.2019 09:55 Uhr

Nehmen Sie irgendwas mit geraden Linien. Irgendwas Technisches vielleicht“, riet der Zeichenlehrer den mehr oder weniger interessierten Oberstuflern. Runde, organische Formen seien bei einem Linolschnitt zu schwierig.

Als seien es Titelblätter eines Hochglanzmagazins hängt eine Serie aus zwölf Bildern an einer Wand des Würzburger Museums im Kulturspeicher. Die Optik der Blätter erinnert entfernt an die Lifestyle-Zeitschrift „Vanity Fair“ („Jahrmarkt der Eitelkeiten“). Doch Julienne Jattiot inszeniert nicht Lifestyle sondern Deathstyle, sozusagen. Ihre – imaginäre – Zeitschrift heißt „Vanity Remains“, was in etwa bedeutet: „Übrig bleibt Nichtigkeit“. Julienne Jattiots Titelblätter – für jeden Monat eines – zeigen im Stil von Modefotografien ausschließlich Totenköpfe und Gerippe. Dazu gibt's, ganz wie bei Zeitschriften, Hinweise auf den – imaginären – Inhalt, etwa: „Miss Salomes beste Tipps um Ihm endlich den Kopf zu verdrehen“, „105 Accessoirs to die for“ oder „Spécial accessoires ultimes“.

Mehr als schwarzer Humor

In den bunten Bildern steckt mehr als schwarzer Humor oder bissige Kritik an Mager-Models und sinnfreien Zeitgeist-Themen. Die in Berlin lebende Französin greift auch ein klassisches Thema der Kunstgeschichte auf: die Memento-mori-Kunst. Seit dem späten Mittelalter und mit Blütezeit im Barock, erinnerten Maler mit „Vanitas“-Bildern an die Vergänglichkeit alles Irdischen.

Die zwölf Jattio-Blätter, voller Rundungen und fließender organischer Formen, sind Linolschnitte.

Für meinen ersten (und einzigen) Linoschnitt schnitzte ich mit diversen Klingen (eine hieß Geißfuß) einen Schraubenschlüssel mit ungefähr dazu passender Mutter und ein rechteckiges Etwas, das eine Ölkanne darstellen sollte ins weiche Material. Alles ohne Rundungen (hätt' ich nicht hingekriegt) und ohne jegliche Perspektive (zu kompliziert).

Linolschnitt. Bei den Meisten weckt das Erinnerungen an die Schulzeit, an Zeichensäle mit viel zu großen Tischen, an entspannte Stunden mit Lehrern, die eher Künstler als Pädagogen waren und von daher harmlos. Aber Linolschnitt klingt nicht wirklich nach Kunst. Was nicht verwundert. Schließlich hatte der englische Chemiker Sir Frederick Walton 1863 sein famoses Material aus Leinöl, Korkmehl und Harzen als Fußbodenbelag erfunden.

 

Schwarzer Humor mit Verankerung in der Kunstgeschichte: Das April Blatt aus Julienne Jattios Serie „Vanity Remains“ (Linoschnitt und Buchdruck).
Foto: (c) Juliene Jattiot | Schwarzer Humor mit Verankerung in der Kunstgeschichte: Das April Blatt aus Julienne Jattios Serie „Vanity Remains“ (Linoschnitt und Buchdruck).

Eine Substanz, mit der man die Küche auslegt, die man mit Füßen tritt – damit kann man doch keine Kunst machen! Mag sie sich auch noch so gut bearbeiten lassen. Tatsächlich galt – und gilt womöglich heute noch – der Linoschnitt als eine Art armer und irgendwie peinlicher Verwandter von Radierung, Lithografie oder Holzschnitt. Viele Expressionisten gaben denn auch ihre Linolschnitte verschämt als Holzschnitte aus . . .

Picasso war das wurscht. Der Spanier war souverän und selbstbewusst genug, um seine Linolschnitte auch so zu nennen. Andere folgten ihm. In der Kulturspeicher-Ausstellung (siehe Kasten) mit den Jattiot-Drucken hängen auch Picassos. Sie zeigen die Handschrift des Meisters ebenso wie seine Vielseitigkeit in Stil und Motivsicht.
 

Detail aus „Shop“
Foto: hele | Detail aus „Shop“



Dass sich die vermeintlich schülerhafte Hochdrucktechnik auch an sperrige Künstlerpersönlichkeiten anschmiegt, beweisen im Kulturspeicher zudem Linolschnitte von Henri Matisse, Marc Chagall, Joan Miró, Markus Lüpertz, Jörg Immendorff oder Georg Baselitz. Sie zeigen auch, dass sich diese Art der Druckgrafik für alle Themenfelder eignet. Vom technischen Objekt bis zum Porträt.

Der erstaunliche Raum

Mein schüler- und stümperhaftes „Werkstatt-Stillleben“ (Stillleben haben normalerweise auch mit dem „Vanitas“-Gedanken zu tun – dieses nicht) war kaum größer als zwei Handflächen. Ich hatte mir aus der Schachtel mit Schnittresten eigens ein extra kleines Stück Linoleum ausgesucht. Ich war faul.

Wer in den Durchgang zum zweiten Ausstellungssaal des Kulturspeichers tritt, blickt in einen erstaunlichen Kunst-Raum, der den wirklichen Raum, in dem der Betrachter sich bewegt, fortzusetzen scheint. Die Sonne, die von links durch ein großes Fenster fällt, taucht den leeren Raum in ein magisch flimmerndes Licht. Das eigentliche Wunder des mehrere Quadratmeter großen Linolschnitts „Shop“ des Tschechen Vojtìch Kováøik offenbart sich beim näheren Hinsehen: Das ganze Bild setzt sich aus kleinen, farbigen Rasterpunkten zusammen – wie etwa Fotografien in Zeitungen. Was, aus der Entfernung betrachtet, den blickfesselnden Eindruck des Bildes bewirkt.

Linolschnitt, der arme und etwas peinliche Bruder von Radierung, Lithografie oder Holzschnitt? Nur, wenn's sich um eine Schülerarbeit handelt . . .

Die kursiven Passagen schildern die persönlichen Erfahrungen des Autors mit der Technik Linolschnitt.

Linolschnitte im Würzburger Kulturspeicher

„Scharf geschnitten – Linolschnitte vom Expressionismus bis heute“ heißt eine Ausstellung des Würzburger Museums im Kulturspeicher. Zu sehen sind mehr als 100 Werke aus der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen, die eine einzigartige Linolschnitt-Sammlung besitzt.

Zu sehen sind auch Werke von den Großen der Kunstgeschichte, von Pablo Picasso und Henri Matisse bis Joan Miró, August Macke und Gabriele Münter. Künstler wie Georg Baselitz oder Markus Lüpertz entdeckten die Technik, die wohl Anfang des 20. Jahrhunderts aufkam, in den 1980er Jahren neu. Der Kulturspeicher zeigt eine Vielfalt an Stilen und Motiven.

Ein Schwerpunkt der Schau liegt auf dem Wettbewerb „Linolschnitt heute“, der seit 1989 regelmäßig in Bietigheim-Bissingen ausgerichtet wird. Zu sehen sind Siegerarbeiten.

Öffnungszeiten: Dienstag 13–18, Mittwoch und Freitag bis Sonntag 11-18, Donnerstag 11–19 Uhr. Bis 1. Oktober.

 
 
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