„Brokeback-Mountain“-Regisseur Ang Lee hat das Unmögliche jetzt geschafft: Mit genialen 3-D-Effekten und magischer Erzählweise entführt der gebürtige Taiwaner und Oscar-Preisträger in eine visuell einzigartige Welt. Und auch die Deutschen wollen alle zu Pi und seinem Tiger ins Boot: Mit fast 500 000 Zuschauern in der ersten Woche ist „Life of Pi“ – für einen Film ohne viel Action und Stars – auch hierzulande ein absoluter Überraschungserfolg.
Es ist eine wunderbar schräge Geschichte. Das fängt schon mit dem Namen der Hauptfigur an, Piscine Molitor Patel, nach einem Schwimmbad in Paris benannt. Der Sohn eines indischen Zoo-Besitzers macht daraus Pi, um dem Spott seiner Mitschüler zu entgehen. Sein Gegenspieler ist Richard Parker, eigentlich ein ganz normaler Name – nur halt nicht für einen ausgewachsenen bengalischen Tiger. Pi und Parker sitzen im selben Boot. Buchstäblich. 227 Tage treiben sie als Schiffbrüchige gemeinsam über den Pazifik. In seinem Martial-Arts-Epos „Tiger & Dragon“ (2000) verzichtete Ang Lee noch weitgehend auf digitale Tricks. Damals ließ er Schwertkämpfer an unsichtbaren Seilen durch die Luft und übers Wasser gleiten. Für „Life of Pi“ trommelte er nun Tausende Effekte-Experten zusammen. Das Ergebnis ist ein dreidimensionales Feuerwerk für die Sinne: Man sitzt mitten drin, wenn ein Schwarm glitzernder Fische an den Köpfen vorbeischießt. Oder ein riesiger Wal aus einem Meer von Leuchtplankton steigt. Oder wenn sich die Nackenhaare von Richard Parker sträuben und die mächtigen Muskeln unter dem Fell zittern. Der Tiger aus dem Computer ist von einem echten Tier nicht zu unterscheiden. Lee schwärmte kürzlich bei der Berliner Akademie der Künste von der 3-D-Technik als „Wunderland“. Er glaube aber auch an die „Macht von Geschichten, sowohl in 2-D wie in 3-D“, sagte der Meisterregisseur (lesen Sie dazu die graue Infobox unten). Mit den bahnbrechenden Effekten von „Avatar“ wird „Life of Pi“ schon verglichen, doch Lees Film hat viel mehr zu bieten. Denn die technischen Raffinessen sind nur das Beiwerk für eine magische, spirituelle Reise, die Lee mit seiner gewohnten Originalität inszeniert. Es ist eine berührende Parabel über Glaube, Mitgefühl, Freundschaft und Überlebenskampf. Sie beginnt für den kleinen Pi im geliebten Zoo des Vaters in Indien. Doch der will seiner Familie in Kanada eine bessere Zukunft bieten. Auf der Überfahrt mit der gesamten Arche Noah an Bord sinkt das Schiff in einem schweren Sturm, mit ihm Pis Eltern und sein Bruder. Mit einer Handvoll Tieren, darunter ein verletztes Zebra, ein seekranker Orang-Utan, eine gefräßige Hyäne und ein Tiger, kann sich der Junge in ein kleines Boot retten. Nach kurzer Zeit sind es nur noch Pi und Parker, die jeden Tag ums Überleben kämpfen. Dass der Junge überlebt, weiß der Zuschauer schon früh. Denn in Rückblenden erzählt ein erwachsener Pi seine Geschichte einem neugierigen Schriftsteller, der die Wahrheit herausfinden möchte.
Gérard Depardieu ist für viele das bekannteste Gesicht auf der Leinwand, auch wenn der französische Star nur eine kleine Rolle als ungehobelter Schiffskoch hat. Der Inder Irrfan Khan („Slumdog Millionär“) spielt den erwachsenen Pi. Die wichtigste Rolle aber hat ein Neuling, der mit 17 Jahren entdeckt wurde: Der indische Student Suraj Sharma setzte sich beim Vorsprechen gegen 3000 Kandidaten durch.
Lee räumte im November in Berlin ein, dass er mit der 3-D-Technik ein für ihn spannendes Neuland betreten habe. „Ich hatte immer wieder große Angst. Die Dreharbeiten waren ein riesiger Lernprozess für mich“, gestand der Regisseur. Die Sorge war umsonst. „Life of Pi“ hätte man kaum besser inszenieren können. Das haben auch schon die Juroren der Golden-Globe-Awards – dem wichtigsten Vorboten auf die Oscars – anerkannt: „Life of Pi“ ist für drei Trophäen nominiert, als bester Film, für die beste Regie und obendrein für die Musik.
Die wichtigsten Filme von Ang Lee
Ein Dutzend Filme hat der gebürtige Taiwaner Ang Lee (58, rechts vor dem Filmplakat zu seinem neuesten Werk, „Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger“) in seiner Heimat und in Hollywood gedreht. Dabei ließ er kaum ein Genre aus. Der Oscar-Gewinner und Golden-Globe-Preisträger, der seit 1980 in den USA lebt, hat bei der Themenwahl oft Mut und Originalität bewiesen. Seine wichtigsten Filme: • „Das Hochzeitsbankett“ (1992): Ein in Amerika lebender Homosexueller aus Taiwan geht eine Scheinehe ein, um seinen traditionellen Eltern ein „normales“ Dasein zu präsentieren. Die Komödie mit Tiefgang machte Lee auf einen Schlag berühmt. • „Eat Drink Man Woman“ (1994): Ein satirisch-liebevoller Blick auf Traditionen und den unaufhaltsamen Zusammenbruch einer Kultur. Ein taiwanesischer Koch tischt seinen rebellischen Töchtern jeden Sonntag ein Festmahl auf, mit einem überraschenden Ende. • „Sinn und Sinnlichkeit“ (1995): Bei seiner Literaturverfilmung von Jane Austens Roman über zwei gegensätzliche Schwestern in England Ende des 19. Jahrhunderts arbeitete Lee mit einem Drehbuch von Schauspielerin Emma Thompson. • „Der Eissturm“ (1996): Lee schaut mit der Tragikomödie hinter die Fassade des scheinbar idyllischen Vorstadtlebens der 1970er Jahre. Mit Partys und Partnertausch wird gegen starre gesellschaftliche Zwänge rebelliert. • „Tiger & Dragon“ (2000): In dem Martial-Arts-Epos setzt Lee die Gesetze von Raum und Schwerkraft außer Kraft. Seine Stars schweben vor der exotischen Kulisse des alten Chinas über die Leinwand. Atemberaubende Kampfszenen im Mix mit einer epischen Lovestory. • „Hulk“ (2003): Selbst ein Comic-Held wird unter Lees Regie zu einer komplexen Figur. Trotz teurer Actionszenen hat das grüne „Hulk“-Monster Gefühle und Originalität. • „Brokeback Mountain“ (2005): Schwule Cowboys am Lagerfeuer? Lee hatte den Mut, das richtige Fingerspitzengefühl und mit Heath Ledger und Jake Gyllenhaal perfekte Hauptdarsteller, um mit der Liebesgeschichte vor einer grandiosen Bergkulisse Tabus zu brechen. • „Gefahr und Begierde“ (2007): Der erotische Spionagethriller spielt während des Zweiten Weltkriegs in Shanghai, wo eine junge chinesische Agentin einen politischen Mord plant. Mit gewagten Sexszenen zeigt Ang Lee gefährliche Begierde. • „Taking Woodstock“ (2009): Im Mittelpunkt der bonbonbunten Hommage an die Flower-Power-Zeit steht ein Jungunternehmer, der den Woodstock-Veranstaltern eine große Wiese vermietet. Der Rest ist Musikgeschichte. Text & Foto: dpa