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BERLIN/WÜRZBURG
Lady Gaga klagt das Schwein im Menschen an
Lady Gaga klagt das Schwein im Menschen an
Von unserem Mitarbeiter Steffen Rüth
 |  aktualisiert: 24.05.2022 09:40 Uhr

Vor dem „Langham Hotel“ in der Londoner Innenstadt campiert ein sehr, sehr buntes Trüppchen von vielleicht 50 Mädchen und Jungs zwischen etwa 15 und Ende 20. Die Haare schillern in den grellstmöglichen Signalfarben, manche tragen Clownschminke im Gesicht, andere immer noch die Schweinenasen aus Plastik, die Lady Gaga am Abend zuvor bei ihrem Comeback-Konzert im Camdener Roundhouse verteilte.

Einige der „Little Monsters“, wie Gaga die besonders hingebungsvollen ihrer Fans nennt, haben fast die ganze Woche vor dem Hotel verbracht. Als die Sängerin jetzt, einen Monat später, in ihrem Berliner Lieblingsclub „Berghain“ vorstellig wurde, um ihre neue Musik zu präsentieren, waren einige von ihnen auch dort, sie durften sogar Fragen stellen. Was immer man auch sonst von dieser Frau halten mag – das Verhältnis zu ihren Anhängern ist wirklich liebevoll und fürsorglich.

Im Fünfzehnminutentakt

Gaga sitzt unterdessen im sechsten Stock und gibt Interviews im Fünfzehnminutentakt. Nach standesgemäßer, fast zweistündiger Verspätung wird man in einen kleinen Raum geführt, offenbar so eine Art Wartezimmer. „Die Blumen riechen wirklich kräftig“, sagt eine der zahlreich anwesenden Betreuerinnen und grinst verstohlen. Ja, so kann man es auch ausdrücken.

Der Raum riecht nach Gras, und zwar nach jenem, das man raucht. Dann kommt ein resoluter junger Mann, nimmt einen mit nach nebenan, wo Lady Gaga auf einem Sofa sitzt und wartet. „Hi“, sagt sie und lächelt fast schüchtern, „ich bin Gaga“. Die 27-Jährige mit dem bürgerlichen Namen Stefani Germanotta hat sich für ein überraschend zahmes Outfit entschieden. Sie trägt eine schwarze, etwas weitere Stoffhose, eine helle Bluse und dazu eine blonde, kurze und etwas biedere Perücke. Man spürt: Sie ist nervös. Der Druck ist nach der langen, durch eine Hüftoperation im März notwendig gewordenen Pause immens. Und die Konkurrenz schläft nicht.

Gaga muss mit ihrer neuen, am 8. November erscheinenden Platte „Artpop“ liefern, das weiß sie. „Auch wenn ich nicht wusste, wie die Heilung verläuft“, sagt Lady Gaga, „und ich Angst um meine Karriere hatte, weiß ich im Nachhinein: Die Verletzung war das Beste, das mir passieren konnte. So hatte ich noch viel länger Zeit, an den neuen Songs zu arbeiten.“ Jetzt pflegt sie den Körper, trainiert im Fitnessstudio, schwimmt, macht Yoga und Pilates und fühlt sich so fit wie nie zuvor. „Ich bin voller Energie. Wie ein Rennpferd, das aus der Startbox springt.“

Auf „Artpop“, ihrem dritten Album, holt Lady Gaga denn auch zum ganz großen Rundumschlag durch die Popmusik aus. Klar, sie hatte Hits wie „Pokerface“ oder „Born this Way“, sie hat zig Millionen Alben verkauft und angeblich 150 Millionen Dollar verdient. Wie keine Zweite aus ihrer Zunft versteht sie es, im Gespräch zu bleiben – jeder dürfte noch das Bild von ihr im Fleischkleid vor dem inneren Auge haben. Aber selbst die krasseste Provokation nutzt sich ab, wenn sie nicht durch Klasse und Qualität unterfüttert wird.

„Ich will die Begrenzungen verschieben. Popmusik ist derzeit sehr eng definiert, diese Definition möchte ich erweitern. Popmusik war früher grandios und einzigartig und großartig. Was ich versuche, ist diese Einzigartigkeit in die ganz aktuelle und kommerziell erfolgreiche Popmusik zu übertragen.“ Zu diesem Zweck umgibt sie sich nun mit ambitionierten und berühmten Popart-Künstlern.

Jeff Koons etwa zeichnet für das Album-Cover verantwortlich, mit Marina Abramovic („Sie ist der einzige Mensch, der mich künstlerisch wirklich versteht“) hat sie ein etwas befremdliches Video aufgenommen, zu sehen darauf: Lady Gaga ganz nackt im Wald. Etwa ein hochkultureller Kommentar zum Nacktsein einer Miley Cyrus? „Nein! Überhaupt nicht. Die Menschen ziehen sich seit vielen Jahrhunderten in Gemälden aus, seit mehr als 2000 Jahren gibt es Kunstwerke, die nackte Menschen darstellen.“ Lady Gaga möchte offenkundig den Beweis erbringen, dass ihre Version des Pop hochwertiger und kunstvoller ist als alles andere, was momentan so im Radio rotiert, und fast zwangsläufig verkrampft sie ein bisschen dabei. So beweist sie mit der HipHop-Nummer „Jewels n‘ Drugs“ eigentlich nur, dass der Musikstil nicht zu ihr passt, das weltmusikalisch eingefärbte „Aura“ sehnt sich zu sehr nach einer kleinen Islam-Kontroverse. Und dennoch: Das Album fasziniert, auch weil kein Song dem nächsten ähnelt.

Ist die Single „Applause“ noch recht konventionell, und könnte auch der semiballadeske Titelsong von Beyoncé stammen, so gibt es auch faustdicke Überraschungen: Im Text zu „Sexxx Dreams“ singt sie sehr freizügig über die Freuden der Selbstbefriedigung („Auch dank der Beziehung zu meinem Freund fühle ich mich endlich sexy und wollte darüber schreiben“).

Missbrauchserfahrung

Und dann ist da noch „Swine“ – das Stück vereint Hardrock, Klassik, Techno und Piano-Pop, es ist ein echter Brecher. „'Swine'“, so Gaga, „ist die Zusammenfassung meiner musikalischen Obsessionen. Über viele Jahre nun bewundere ich Bässe, Synthesizer und all ihre unendlichen Möglichkeiten der Interaktion. Ich liebe es, musikalische Welten zusammenzufügen, mich niemals zu limitieren und Stile zu vereinigen, die nicht unbedingt zusammenzugehören scheinen.“

In der Tat bemerkenswert ist das Thema von „Swine“. Lady Gaga spricht hier über eine Missbrauchserfahrung. Sie singt „You are just a pig inside a human’s body“, auf Deutsch: Du bist ein Schwein im Körper eines Menschen. Doch wer wird da als Schwein angeklagt? „Wir alle. Ich möchte keine Details nennen, das muss auch so genau niemand wissen. Entscheidend ist: Man soll sagen können 'Du bist das Schwein', aber auch 'Ich bin das Schwein'. Wir alle sind Schweine. Wir alle können frei und sexy und kreativ sein, und im Zuge dessen fließt der ganze Schmerz heraus aus deiner Schweinenase und wird zu Farbe auf der Leinwand.“

 
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