Der Mensch ist ein Wirbeltier und hat eine unsterbliche Seele, sowie auch ein Vaterland, damit er nicht zu übermütig wird.“ Diese ungewöhnliche Biologiestunde erschien 1931 in der „Weltbühne“. Damals hatte sich ihr Verfasser – ein gewisser Kaspar Hauser – schon aus dem Metier zurückgezogen, für das er in seinem Heimatland berühmt und berüchtigt war – aus seiner Tätigkeit als politischer Journalist und Satiriker. Kaspar Hauser, der eigentlich Kurt Tucholsky hieß, war im Jahr zuvor nach Schweden, in das Land seiner Sehnsucht, ausgewandert. Dort wollte er seinen Traum von einer Existenz als freier, unabhängiger Schriftsteller verwirklichen. In einer Villa nahe Göteborg entstand neben Theaterstücken und Filmskripts auch das Buch, das man heute noch am ehesten mit ihm verbindet: „Schloss Gripsholm“.
Zwei Jahre nach Erscheinen des Romans übernahmen die Nationalsozialisten die Macht in Deutschland. Für Tucholsky, der am 9. Januar vor 125 Jahren geboren wurde, hatte nicht nur seine Heimat, sondern auch seine Arbeit als unermüdlicher Warner und Aufklärer die schlimmstmögliche Wendung genommen: Er konnte mit seinen Artikeln den Selbstmord der Demokratie nur noch beschreiben, aber nicht mehr verhindern. Die Mehrheit der Deutschen hatte sich bewusst für Hitler entschieden und war sehenden Auges in die Katastrophe hineingeschlittert.
Kurt Tucholsky wird am 9. Januar 1890 in Berlin geboren. Zeit seines Lebens leidet er unter dem frühen Verlust seines Vaters und unter der Lieblosigkeit seiner Mutter. Seine schmerzhaften Erfahrungen aus der Kindheit sind bereits in jungen Jahren Antriebskraft für Tucholskys geistige Eigenständigkeit und erstaunliche Kreativität. Mit einem Artikel gegen die Zensurbestrebungen im Kaiserreich beginnt die journalistische Laufbahn des Jurastudenten. Das Ziel seiner scharf formulierten Polemiken sind Spießer, korrupte Beamte und kleine Leute, die versuchen, sich mit Betrügereien durchzuschlagen. Bald schreibt der promovierte Jurist auch Theater-, Buch- und Filmkritiken, Glossen und Satiren, in denen er sich gegen die Todesstrafe ausspricht oder Politiker aufs Korn nimmt. Zu den zentralen Themen seines Schaffens aber werden Militär und Krieg. Gegen die „Massenschlächterei“ des heraufziehenden Ersten Weltkriegs fordert er: „Wenn ihr nur wollt, seid ihr alle frei!/Euer Wille geschehe! Seid nicht mehr dabei!/Wenn ihr nur wollt: bei euch steht der Sieg!/– Nie wieder Krieg –!“
Wie viele seiner Generation, kehrt Tucholsky an Leib und Seele verwundet aus dem Krieg heim. Aufgrund eines stattlichen Erbes ist der überzeugte Antimilitarist und Pazifist in der Lage, das bunte Berliner Nachtleben zu genießen und ausgedehnte Reisen zu unternehmen. Doch der erfolgreiche Autor ist ein empfindsamer und verletzlicher Mensch, ein tragischer Clown, der gerne austeilt, in dem es aber, wie er Claire Goll einmal anvertraute, „innen weint“.
Vor allem der inflationäre Gebrauch, den Tucholsky von Namen macht, kündet von dieser Zerrissenheit – seine bekanntesten Decknamen sind Ignaz Wrobel, Peter Panter, Theobald Tiger und Kaspar Hauser. Auch gegenüber seinen Freunden und in seinen zahlreichen Beziehungen zu Frauen benutzt Tucholsky Pseudonyme – und erfindet gar einen „Sohn“ mit Namen Ludolf, den er in krakeliger Kinderschrift Briefe schreiben lässt. Nach einer kurzen Phase der Desorientierung verfasst der Freigeist und Querdenker politische Leitartikel, Gerichtsreportagen, Glossen und Satiren, Gedichte und Buchbesprechungen. Kabarettbühnen wie Schall und Rauch beliefert er mit Texten, Liedern und Couplets; für die Diseuse Claire Waldoff schreibt er brillante Conferencen, pointierte Sketche, kess-erotische Couplets und klassenkämpferische Chansons. Vor allem aber begleitet Kurt Tucholsky die erste deutsche Demokratie als streitbarer politischer Chronist. Unerbittlich prangert er den nationalistisch-militaristischen Geist an, der den Untergang des Kaiserreichs unbeschadet überdauert hat.
Er ist Prozessbeobachter in Verfahren gegen die Mörder pazifistischer und liberaler Politiker wie Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Walther Rathenau und klärt die Öffentlichkeit darüber auf, dass die Richter in aller Regel die nationalistischen Ansichten der Angeklagten teilen und mit ihnen sympathisieren. Doch so gnadenlos Kurt Tucholsky andere auf politisches und moralisches Fehlverhalten hinweist, so unerbittlich geht er auch mit sich selbst ins Gericht. Immer wieder stellt er Sinn und Zweck seiner journalistischen Arbeit in Frage; immer öfter kulminieren seine Zweifel in schweren Depressionen.
Um seinem Weltschmerz zu entfliehen, verlässt Kurt Tucholsky das von der Inflation geschüttelte „Gefängnis Deutschland“ und lässt sich 1924 als Korrespondent in Paris nieder. Der Kampf für die deutsch-französische Verständigung wird zu seiner Herzensangelegenheit; mit seinem Engagement für die „Vereinigten Staaten von Europa“ kann Tucholsky als ein Pionier der europäischen Einheit gelten. Doch auch in Frankreich quälen ihn Selbstzweifel: „Hunger habe ich alle meine Lebtage gehabt, Hunger nach Geld, dann: Hunger nach Frauen, dann, als das vorbei war: Hunger nach Stille. Oh, solchen Hunger nach Ruhe. Mehr: Hunger nach Vollendung. Nicht mehr müssen – nicht mehr durch die Zeit fahren müssen.“
1930 zieht Tucholsky endgültig nach Schweden; zwei Jahre später wird ihm die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. In seinen letzten Jahren quält ihn vor allem ein persönliches Versäumnis. Es steht im Zusammenhang mit dem Satz „Soldaten sind Mörder“, mit dem er bis heute von Bewunderern und Gegnern gleichermaßen identifiziert wird. Wegen dieses Ausspruchs, den er in der „Weltbühne“ veröffentlichte, wird deren Verleger Carl von Ossietzky angeklagt und verhaftet. Tucholsky lebt zu dieser Zeit bereits in Schweden und reist nicht nach Deutschland, um seinem Freund und Weggefährten beizustehen: „Ich habe damals versagt, es war ein Gemisch aus Faulheit, Feigheit, Ekel, Verachtung.“ Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky stirbt 1938 im Alter von 48 Jahren an den Folgen seiner KZ-Aufenthalte. 1933 werden Tucholskys Bücher wie die Ossietzkys auf dem Berliner Opernplatz verbrannt. In Deutschland hat er Schreibverbot; zudem plagt ihn eine chronische Nasen- und Atemwegskrankheit. Fünf schwere Operationen bringen allenfalls eine kleine Linderung. Er hat kaum noch Kraft zum Leben und Arbeiten. An seinen Freund und Kollegen Walter Hasenclever schreibt er am 11. April 1933: „Daß unsere Welt in Deutschland zu existieren aufgehört hat, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Und daher: Werde ich erst amal das Maul halten. Gegen einen Ozean pfeift man nicht an.“ Bereits 1921 hieß es in seiner Schrift „Die Verteidigung des Vaterlandes“: „Denn nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.“
Kurt Tucholsky stirbt am 21. Dezember 1935 in einem Göteborger Krankenhaus. Am Abend zuvor hatte er eine Überdosis Schlaftabletten eingenommen und war ins Koma gefallen. Man vermutete lange Zeit, dass es sich um Selbstmord handelte; doch heute wird auch Suizid aus Versehen in Betracht gezogen. Seine Asche wird im Sommer 1936 unter einer Eiche nahe Schloss Gripsholm beigesetzt. Auf der Grabplatte steht ein Zitat aus Goethes Faust II: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“. Für sein Pseudonym Ignaz Wrobel hatte Tucholsky 1923 folgenden Grabspruch vorgeschlagen: „Hier ruht ein goldenes Herz und eine eiserne Schnauze – gute Nacht!“