Gurlitt in Würzburg? Diese Frage lässt sich ohne Zweifel mit „Ja“ beantworten. Ob sich der sehnsüchtig gesuchte Cornelius Gurlitt und sein Vater Hildebrand in der Stadt am Main aufgehalten haben, darüber gibt es bislang noch keine gesicherten Erkenntnisse. Wolfgang Gurlitt dagegen war nicht nur in Würzburg – er hatte sogar in der Stadt am Main eine Wohnung und pflegte anscheinend enge Kontakte zu Heiner Dikreiter (1893 – 1966), dem ersten Direktor der 1941 gegründeten Städtischen Galerie. „Mein lieber Freund Wolfgang“ – so bezeichnete Dikreiter den Kunsthändler und Sammler bei der Ausstellungseröffnung im Juli 1957 in der Otto-Richter-Halle.
Wolfgang Gurlitt ist der Cousin von Hildebrand Gurlitt. Die beiden verbinden nicht nur enge verwandtschaftliche Beziehungen. Beide hatten Väter, die sich der Kunst verschrieben haben. Hildebrands Vater ist der renommierte Dresdner Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt (1850 – 1938), Wolfgangs Vater der ebenso angesehene Berliner Kunsthändler Fritz Gurlitt (1854 – 1893).
Beide Söhne traten in die Fußstapfen ihrer Väter. Während Wolfgang schon früh als Kunsthändler tätig war und die von seinem Vater gegründete Galerie weiterführte, übte Hildebrand erst dann diese Tätigkeit aus, als die Nationalsozialisten ihn zwei Mal aus dem Amt gedrängt haben: 1930 verlor er seinen Posten als erster Direktor des König-Albert-Museums in Zwickau. Anschließend führte ihn sein Weg vom Zwickau nach Hamburg. Nach nur drei Jahren als Leiter des dortigen Kunstvereins wurde er 1933 entlassen. Erneut war sein Engagement für die moderne Kunst, vor allem für den deutschen Expressionismus, den nun offiziellen braunen Machthabern ein Dorn im Auge.
Obwohl die Großmutter der Cousins Jüdin war, machten die Nazis mit beiden ganz spezielle Geschäfte: Sie nutzen deren umfangreiche Kunstkenntnisse und gute Kontakte. Hildebrand Gurlitt wurde Kunsthändler mit Sonderauftrag. Er sollte die als „entartete Kunst“ gebrandmarkten Bilder und Skulpturen ins Ausland verkaufen und Devisen beschaffen. Zudem war er einer der vier Chefeinkäufer für das in Linz geplante „Führermuseum“. Auch Wolfgang Gurlitt gehörte zum Kreis derer, die für die Sammlung für Adolf Hitlers Lieblingsstadt Linz Kunst beschaffen sollten.
Wolfgang Gurlitt soll eine umtriebige, äußerst schillernde ambivalente Persönlichkeit gewesen sein. „Er hat Heiner Dikreiter aller Wahrscheinlichkeit nach übers Ohr gehauen“, sagt Henrike Holsing. Die stellvertretende Leiterin des Museums Kulturspeicher in Würzburg bereitet gerade eine Ausstellung über den Maler Wilhelm Leibl (er starb 1900 in Würzburg) und über den sogenannten Leibl-Kreis vor; dazu zählen Künstlerfreunde wie Wilhelm Trübner, Johann Sperl, Carl Schuch oder Theodor Alt. „Fritz Gurlitt, der Vater von Wolfgang, hat Leibl noch persönlich gekannt“, so Holsing. Sohn Wolfgang profitierte davon noch viele Jahre später.
Bei ihren Recherchen stieß Henrike Holsing auf die engen Bande zwischen dem Würzburger Galerieleiter und Wolfgang Gurlitt. „Dikreiter hat bei ihm einiges gekauft, auch Leibl-Werke, die keine waren.“ Der erste Kontakt zwischen den beiden war im Jahr 1942, hat die Würzburger Kunsthistorikerin herausgefunden. Damals erwarb Dikreiter Wilhelm Leibls „Bildnis eines Herrn“ bei Gurlitt, ein unvollendetes Werk. „Der Künstler wurde von den Nationalsozialisten sehr geschätzt“, sagt Henrike Holsing, „Dikreiter hat nicht zufällig in der Nazizeit angefangen, Leibl zu sammeln“.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Kunsthändler Gurlitt allerdings zwei „falsche Leibls“ im Angebot, so Holsing. Auch sie werden in der Ausstellung, die am 13. Dezember im Kulturspeicher eröffnet wird, zu sehen sein: „Mädchenkopf mit dunkler Bluse“ und „Mädchenkopf mit heller Bluse“. Der Kaufpreis sei sehr niedrig gewesen. Holsing vermutet deshalb, dass Gurlitt wohl wusste, dass es keine Originale sind. „Zumindest würde es mich sehr wundern, wenn er die Bilder für Leibl-Werke gehalten hat.“
Heiner Dikreiter habe sich durch die Geschäftsbeziehung zu dem in Kunst- und Galeriekreisen bekannten Wolfgang Gurlitt eine Renommeesteigerung erhofft, vermutet die stellvertretende Kulturspeicher-Chefin. „Er dachte, er würde von ihm bevorzugt behandelt“, so Holsing. Und Dikreiter, der nicht nur Direktor der Städtischen Galerie, sondern auch Maler war, hat den Kunsthändler umgarnt, ihm sogar 1957 eine Ausstellung in der Otto-Richter-Halle gewidmet: „Eine Auslese aus der Graphiksammlung des Kunsthändlers, Galerieleiters, Verlegers und Kunstförderers aus Anlaß seines 50jährigen Berufsjubiläums“ steht im schmalen Katalog. Auf den wenigen Seiten strotzt er vor Ehrerbietung. Galeriedirektor Heiner Dikreiter schreibt: „Wir in Würzburg haben allen Anlass, Ihnen, unserem treuen Helfer in so vielen Ausstellungsnöten, ganz besonders dankbar zu sein.“ Von Anbeginn an habe er der 1941 gegründeten neuen Städtischen Galerie mit Rat und Tat Beistand geleistet.
Dikreiters Ausführungen zufolge habe er Wolfgang Gurlitt nach Würzburg geholt, als dessen Haus in Berlin „in Schutt und Asche fiel“. Gurlitt wohnte für einige Zeit im „Neiderthaus“ in der Maxstraße, gleich neben der Otto-Richter-Halle. Zudem habe Dikreiter „Ferientage“ in der Villa Gurlitts auf dem „Lenauhügel“ bei Bad Aussee in Österreich verbracht. Von dort aus agierte der Kunsthändler nach dem Zweiten Weltkrieg – und machte weiter für ihn gute Geschäfte, wurde Österreicher und erster Direktor der „Neuen Galerie der Stadt Linz“, die zeitweise sogar nach ihm benannt war (heute Lentos Kunstmuseum). Später eröffnete Gurlitt noch eine Galerie in München.
Nach Ausführungen von Professor Michael John von der Linzer Universität bildeten 117 Gemälde und Grafiken von Wolfgang Gurlitt den Grundstock der Linzer Galerie – obwohl schon damals bekannt gewesen sei, dass bei einigen Werken die Herkunft nicht restlos geklärt ist – und wie sie in die Hände von Wolfgang Gurlitt gelangt sind. Einige mussten später zurückgegeben werden, zum Beispiel ein unvollendetes „Frauenbildnis“ von Gustav Klimt.
Nicht geklärt ist auch, ob sich eine Schenkung noch in Würzburg befindet. Laut einem Artikel im Main-Post-Archiv vom 2. Juli 1957 soll Gurlitt anlässlich der Ausstellung in der Otto-Richter-Halle der Städtischen Galerie insgesamt neun „hochwertige“ Grafiken überreicht haben: alles Bildnisse von ihm selbst – sie dürften also aus seinem Besitz und nicht Nazi-Raubkunst gewesen sein. Gezeichnet wurden sie laut Zeitungsbericht von Edvard Munch, Lovis Corinth, Oskar Kokoschka, René Sintenis, Alfred Kubin und Max Pechstein. „Wäre schön, wenn wir so etwas hätten“, sagt Henrike Holsing. Sicher sei lediglich die Grafik von Sintenis vorhanden.
Die meisten Fragezeichen tauchen momentan natürlich nicht zu Wolfgang, sondern zu seinem Cousin Hildebrand Gurlitt auf – und zur Herkunft der bei seinem Sohn gefundenen Gemälde und Grafiken. Die Internet-Plattform Lostart.de hat nach der Präsentation erster Bilder aus dem Münchner Kunstfund einen millionenfachen Ansturm erlebt. Während üblicherweise maximal 50 000 Zugriffe pro Tag verzeichnet würden, seien es am Dienstag – bevor die Systeme versagten – mindestens 4,8 Millionen Zugriffe gewesen, teilte eine Sprecherin der Koordinierungsstelle Magdeburg am Mittwoch mit. Die Lostart-Server waren aufgrund der plötzlichen kurzfristigen Anfragen überlastet, die Seite für viele Interessierte nicht zu erreichen. „Derzeit arbeiten wir auf Hochtouren, um die Verfügbarkeit in gewohnt guter Weise wiederherzustellen“, hieß es weiter.
Verstärkt Zugriffe dürften in den vergangenen Tagen auch die im Internet abrufbaren Seiten aus dem National Archive in Washington sein. Aus den Protokollen geht nicht nur hervor, dass sich nach Kriegsende 115 Gemälde, 19 Grafiken und 72 andere Kunstobjekte in Hildebrand Gurlitts Besitz befanden, die von den US-Amerikanern in den „Collecting Point“ nach Wiesbaden gebracht wurden. 1950 hat er fast alles wieder zurückerhalten. Der Kunsthändler, dessen Sammlung angeblich bei der Bombardierung Dresdens komplett vernichtet wurde, wohnte damals in Oberfranken: in Aschbach, einem Stadtteil von Schlüsselfeld. Mit Informationen von dpa