Es ist vielleicht das symbolischste Kunstwerk in der Lagunenstadt Venedig: Lorenzo Quinn's überdimensionale Hände, die aus dem Canal Grande in gruseliger Manier zu wachsen und die Fassade eines Palastes zu halten scheinen. „Support“, „Unterstützung“, hat der Italiener sein Werk genannt, mit dem er auf den Klimawandel und die Bedrohungen für Venedig aufmerksam machen will. Unwillkürlich hat er da den Nagel in Sachen Kunst bei der 57. Biennale auf den Kopf getroffen.
Über die Frage, ob diese Biennale, kuratiert von der Französin Christine Macel, eine Unterstützung der Kunst und vor allem der Künstlerinnen und Künstler war, wird gestritten. Ist sie ihrem Motto „Viva Arte Viva“ („Es lebe die Kunst, sie lebe“) ebenso gerecht geworden wie der Frage, ob Kunst an sich auch in Zeiten von IS-Terror, weltweiten Flüchtlingswellen und drohendem Atomkrieg aufgrund unberechenbarer Staatenführer noch Antworten und Leitplanken für ein menschliches Miteinander liefert? Eine Diskussion, die weit über den 26. November hinaus dauert, wenn die im Mai eröffnete weltgrößte und wichtigste Ausstellung für Gegenwartskunst ihre Pforten schließt.
Deutsche Kunst darf sich freuen
81 Länder-Pavillons in den Giardini und im Arsenale, den offiziellen Ausstellungsorten, sowie in verschiedenen Palästen in der Stadt, und eine kuratierte Ausstellung mit 120 von Macel ausgesuchten Künstlerinnen und Künstlern aus 51 Ländern bietet die Biennale. 1895 zur Ankurbelung des Tourismus erfunden, hat das Venedig heute sicher nicht mehr nötig. Dennoch ist der Kontrast von moderner Kunst und altehrwürdigem, aber sichtbar blätterndem Glanz der Serenissima auch im 21. Jahrhundert durchaus inspirierend.
Aus deutscher Sicht gab es in diesem Jahr ja grundsätzlich wenig zu meckern: Anne Imhof bekam für ihre „Faust“-Performance im deutschen Pavillon nicht nur durchgehend Lob, sondern auch höchste Ehren: den Goldenen Löwen der Biennale. Wie auch der aus Fulda stammende Franz Erhard Walther für sein Lebenswerk.
In Ausstellungen und Museen gezeigte Kunstwerke misst man nicht nur daran, wie sie auf den Betrachter wirken. Sondern auch, ob sie im Vorfeld explizit geäußerte Ansprüche halten. Macel hat das so formuliert: „In meinen Augen sind die Künstler diejenigen, die mithilfe dessen, was sie künstlerisch tun, in der Lage sind, die Welt und damit auch den Humanismus neu zu erfinden.“ Hehres Ziel, großer Anspruch, entsprechende Fallhöhe. Und da wird's zum Problem, denn die Biennale ist in ihrer grüblerischen Zuwendung zum Künstler und seinem Schaffen der ebenfalls als ziel- und spannungslos kritisierten im September zu Ende gegangenen documenta in Kassel erstaunlich ähnlich. Die Frage, ob die ausgewählten Kunstwerke auf der Höhe der Zeit sind, drängende Fragen durch neohumanistische Herangehensweise beantworten, kann man nur mit einem überzeugten Jein beantworten.
Die von Christine Macel für die Hauptausstellung gewählte Aufteilung in neun thematische Kapitel sorgt nicht für die gewünschte Befreiung des Künstlers, sondern systemimmanente Einengung. Aus dem Zuviel die Perlen zu fischen, die einem wirklich etwas geben, ist mühselig. Aber es gibt sie, genannt seien drei.
Zum einen die saudi-arabische Künstlerin Maha Malluh mit ihrer überdimensionalen Wand-Installation von bunten Audio-Kassetten auf Brot-Tablets. Vor einem Jahr war sie die erste Künstlerin in der Geschichte ihres Landes überhaupt, die öffentlich ausgestellt wurde. Ihr mehrdimensionales Werk ist eine grafische Offenbarung und eine inhaltliche Herausforderung, ist auf den Kassetten doch Lehrmaterial von Imamen zu hören, die erklären, wie sich Frauen aus Sicht der religiösen Gelehrten korrekt verhalten. Franz Erhard Walther den Goldenen Löwen als bester Künstler zu verleihen, war aufgrund seiner Lebensleistung richtig. Mutig und im Sinne von „Viva Arte Viva“ wäre es aber gewesen, Malluh auszuzeichnen.
Den Besucher lassen die Biennale-Macher eher in den Länder-Pavillons neue Bilder und Eindrücke suchen als in der zentralen Ausstellung. Hervorragende Beispiele multimedialer Kunst zeigen die Schweiz mit einer fesselnden Dokumentation über eine Giacometti-Büste und Südafrika. Die in Berlin lebende Videokünstlerin Candice Breitz lässt Flüchtlinge vor der Kamera ihr Schicksal erzählen. Das Skript legte sie den Kinostars Julianne Moore und Alec Baldwin vor, die es vortragen. Einer der Lichtblicke der Biennale, in dem Kunst erst durch Transformation zur humanistischen Essenz vordringt.
Lügenbaron der Lagune
Was irgendwie trotz aller mit erstaunlicher Verachtung geäußerten Kritik auch für das enfant terrible der zeitgenössischen Kunstszene, den Briten Damien Hirst, gilt. Nur drei Vaporetto-Stationen von Quinn's Händen entfernt, liegt der Palazzo Grassi. Dort und in der Punta della Dogana stellt Hirst nach zehn Jahren Kunst-Pause dank der Hilfe seines Mentors und Förderers Francois Pinault aus.
Der Milliardär und renommierte Kunstsammler Pinault ermöglicht seinem Schützling Hirst, dem er seit 30 Jahren verbunden ist, dessen gewohnte Gigantomanie, Materialschlacht (alleine der Materialwert der 189 Kunstwerke wird auf 50 Millionen Pfund beziffert) und Selbstreferenzialität.
„Lügenbaron der Lagune“ nannte ihn der „Tagesspiegel“. Stimmt, es ist eine Lügengeschichte, die uns Hirst da auftischt mit den Schätzen aus dem Wrack des Unglaublichen, die vor 2000 Jahren auf den Grund des Pazifiks sanken und der Künstler selbst in geheimer Mission gehoben haben soll – aber eine, die man nur zu gerne glauben würde.
Popkultur par excellence ist das, was Damien Hirst hier bietet, und ob man ihn nun gut findet oder nicht, die grundsätzlichen Fragen, die seine vor allem kunsthandwerklich gut gemachten Werke aufwerfen, sind alleine Grund, ihn zu loben. Nicht die Illusion ist das Problem, sondern die Gutgläubigkeit.
Doch was bedeutet es eigentlich, wenn wir alle nur noch misstrauen? Kann man Hirst wirklich dafür verurteilen, dass man als moderner, massenmedial geprägter Mensch nur allzu gerne in die von ihm gestellten Fallen tappt? Es ist bezeichnend für diese Biennale, dass nicht Macels Ausstellung, sondern der millionenschwere Hirstsche Kitsch-Hammer die grundsätzlichen Fragen auslöst.