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Kunst für alle - die Schirn feiert den Wiener Farbholzschnitt
Der Wiener Farbholzschnitt 1900 bis 1910: Die Frankfurter Kunsthalle Schirn feiert die kurze, aber unglaublich vielfältige Blüte einer uralten, von den Künstlern der Secession wiederentdeckten Technik.
Ludwig Heinrich Jungnickel: „Die Schnitter“, 1903, Schablonenspritztechnik auf Papier.
Foto: Albertina Wien | Ludwig Heinrich Jungnickel: „Die Schnitter“, 1903, Schablonenspritztechnik auf Papier.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 06.10.2016 03:47 Uhr

Erstaunlich, dass es noch solch große weiße Flecken in der Kunstgeschichte gibt. Und das zu einer Zeit an einem Ort, der längst als hinreichend bis erschöpfend beschrieben und erforscht gilt: Wien um 1900. Secession und Wiener Moderne mit Egon Schiele, Gustav Klimt und Oskar Kokoschka sind längst als wegweisende Epoche kanonisiert. Da sich aber weder Schiele, Klimt noch Kokoschka besonders für den Farbholzschnitt interessierten, geriet die spezielle Wiener Blüte dieses Mediums zwischen 1900 und 1910 bald in Vergessenheit.

Die Frankfurter Kunsthalle Schirn schließt in Kooperation mit der Wiener Albertina diese Lücke: Die Ausstellung „Kunst für alle – der Farbholzschnitt in Wien um 1900“ kann getrost für sich den Anspruch der Wiederentdeckung einer über 100 Jahre lang vollkommen übersehenen Kunstrichtung in Anspruch nehmen.

Nach Albrecht Dürer hatte die uralte Technik des Holzschnitts in der Kunst keine große Rolle mehr gespielt. Bis sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa wieder aufgegriffen wurde und auch und gerade in Wien einen besonderen Schub erfuhr – nicht zuletzt angeschoben von der Faszination der japanischen Kunst mit ihren klaren Linien und dem virtuosen Umgang mit der „leeren Fläche“. Hinzu kamen die gesellschaftlichen Reformbestrebungen der Secession, die sich sozusagen folgerichtig aus dem Bruch mit dem großbürgerlichen Historismus der Ringstraßenära ergaben.

Preiswerte Alternative zum Gemälde

Der Farbholzschnitt als preiswerte Alternative zum Gemälde sollte „Kunst für alle“ ermöglichen – ein eher optimistischer Ansatz, denn die Auflagen umfassten meist nicht viel mehr als ein Dutzend Blätter, nur wenige Künstler druckten mehrere Hundert.

Karl Anton Reichel, „Weibliche Aktstudie“, 1909.
Foto: Albertina Wien | Karl Anton Reichel, „Weibliche Aktstudie“, 1909.

Die Bilder waren schon damals keine billige Massenware, heute sind sie meist Unikate, die Kurator Tobias G. Natter zusammengetragen hat. Dennoch: Im Bestreben, möglichst viele Lebensbereiche mit Kunst zu durchdringen, erschien die Druckgrafik als geeignetes Medium.

Noch bis 3. Oktober zeigt die Schirn etwa 240 Werke von über 40 Künstlerinnen und Künstlern – Farbholzschnitte und verwandte Techniken wie Linolschnitt oder Schablonendruck. Der Theaterregisseur Ulrich Rasche hat aus schräg stehenden, kunstvoll verschachtelten schwarzen Wänden eine Ausstellungslandschaft geschaffen, die die meist kleinformatigen Arbeiten richtiggehend leuchten lässt.

Zehn Jahre dauerte der Boom, und er brachte eine erstaunliche Vielfalt hervor – das Spektrum reicht von der Bezugnahme auf japanische Vorbilder über genrehafte Studien, Jugendstil, Im- und Expressionismus bis hin zu stark reduzierten Formen an der Grenze zur Abstraktion. Reizvoll auch die Exemplare der Secessions-Zeitschrift „Ver Sacrum“ und des Jugendstil-Magazins „Die Fläche“ – sie waren Verbreitungsmedium und draufgängerisch genutztes Experimentierfeld zugleich.

Die Beschränkungen der Technik – jede Farbe erfordert einen eigenen Druckstock, Korrekturen sind nur begrenzt möglich – brachten, vereinfacht gesagt, zwei Richtungen hervor. Etablierte Künstler wie Carl Moll oder Carl Moser spornten sie an, erst recht raffinierte malerische Effekte zu erzielen, mit Farbverläufen und feinsten Hell-Dunkel-Schattierungen.

Fanny Zakucka: „Tramway“, um 1903, Privatsammlung.
Foto: Kunsthalle Schirn | Fanny Zakucka: „Tramway“, um 1903, Privatsammlung.

Die Gegenrichtung, wenn man so will, erkannte in der Technik die gestalterischen Freiräume und wagte eine neue Formensprache. Es waren dies vor allem Frauen. Sie durften nicht an der Akademie studieren, sondern nur an der Kunstgewerbeschule – was sich in diesem Fall wohl eher als Vorteil erwies. Allerdings, so merkt Projektleiterin Katharina Dohm an, verschwanden viele der Künstlerinnen, die in der kurzen Blütezeit des Farbholzschnitts prägend tätig waren, bald wieder von der Bildfläche – eine Existenz als freischaffende Künstlerin war für Frauen nicht vorgesehen.

Eine Meisterin der Reduktion

Bezeichnenderweise umfasst die Holzschnitt-Sammlung der Wiener Albertina nur Arbeiten von Männern. Die der Frauen sind Leihgaben anderer Provenienz, meist aus Privatsammlungen. „Kunst für alle“ wird ab 19. Oktober in Wien zu sehen sein – allerdings nur das Albertina-Konvolut, also ohne die Arbeiten der Frauen.

Die sind in der Frankfurter Ausstellung aber mit die packendsten. Fanny Zakucka (1874–1954) etwa ist eine Meisterin der Reduktion. Die Ansicht einer Allee in Schönbrunn kommt mit zwei Druckfarben aus: Blau und Gelb. Zusammen mit dem Weiß des Papiers und dem Grün, das beim Übereinanderdrucken von Blau und Gelb entsteht, sind es schon vier. Ein paar wenige geometrische Formen, und schon entsteht der Eindruck einer sonnendurchfluteten Parklandschaft von erstaunlicher Tiefe. „Tramway“, eine Szene mit den Fahrgästen einer Straßenbahn, entstanden um 1903, weist deutlich in Richtung Expressionismus – bei auffallend differenzierter psychologischer Zeichnung der Figuren.

Wie der Gegenentwurf dazu wirken die filigranen Arbeiten von Ludwig Heinrich Jungnickel (1881-1965), die mit ihrem impressionistischen Sinn für Licht und Farbe große Leichtigkeit ausstrahlen.

Frankfurter Kunsthalle Schirn: „Kunst für alle – der Farbholzschnitt in Wien um 1900“, bis 3. Oktober. Öffnungszeiten: Di., Fr.-So. 10-19 Uhr, Mi., Do. 10-22 Uhr.

 
 
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