Alfred Kubin waren fantastische Welten vertraut, er nannte sie „Die andere Seite“. Unter diesem Titel veröffentlichte der Schriftsteller und Illustrator 1909 seine Traumvisionen. Einige Jahre später besuchte der Österreicher Heidelberg. Er interessierte sich für die Sammlung von Bildern „Geisteskranker“. Kubin sei „berührt“ gewesen durch die „geheime Gesetzmäßigkeit“ der Arbeiten. „Wir standen vor Wundern des Künstlergeistes, die aus Tiefen jenseits alles Gedanklich-Überlegten heraufdämmern“, schrieb Kubin 1922 in seinem Bericht „Die Kunst der Irren“.
Den stärksten Eindruck hinterließen die Werke „eines Schlossers aus der Anstalt Emmendingen“, in denen sich, so Kubin, „unzweifelhaft eine geniale Begabung, eine außerordentliche Kraft der Erfindung in Form und Farbe äußert“. Es waren Bilder von Franz Karl Bühler. Der Kunstschmied war, bevor er in die „Irrenanstalt“ eingeliefert wurde, äußerst erfolgreich in seinem Beruf, er gewann Preise, etwa auf der Weltausstellung in Chicago 1893. Bereits drei Jahre später war seine Karriere wegen „Unzuverlässigkeit“ zu Ende, 1898 erlitt er eine Panikattacke und verbrachte fortan sein Leben in diversen psychiatrischen Einrichtungen.
14 000 Werke
Bühlers Arbeiten sind Teil der Sammlung Prinzhorn. Unter diesem Namen wurde sie weltberühmt. Initiator war jedoch Professor Karl Wilmanns. Der „Anstaltschef“ hat Alfred Kubin damals die Lehrsammlung gezeigt. Sie wurde jedoch nicht nach ihm benannt, sondern nach seinem Assistenzarzt Hans Prinzhorn. Dieser hatte in seinem Auftrag in den Jahren 1919 bis 1921 die meisten der rund 5000 Werke aus verschiedenen psychiatrischen Anstalten zusammengetragen. Bis 1930 umfasste der historische Bestand etwa 6000 Zeichnungen, Aquarelle, Gemälde, Skulpturen, Textilien und Texte. Einige Werke wurden in der NS-Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt – als „krankhaftes“ Vergleichsmaterial. Nach 1945 geriet die Sammlung in Vergessenheit und wurde 1963 von dem Ausstellungsmacher Harald Szeemann wiederentdeckt. Seit 1980 ist sie auf etwa 14 000 Werke angewachsen.
Der junge Psychiater und Kunsthistoriker Prinzhorn war – wie Kubin – begeistert von Franz Bühler. Für ihn verkörperte der Patient den „schizophrenen Künstler“ schlechthin. In seinem 1922 erschienenen Buch „Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung“ widmete er Bühler ein eigenes Kapitel unter dem Pseudonym „Franz Pohl“.
Die Arbeiten eines „schizophrenen Architekten“ werden im Buch jedoch mit keiner Silbe erwähnt. Auch Kubin bezeichnet ihn als den „uninteressantesten“ aufgrund seiner „ausgeklügelten Auffassung und der unangenehmen technischen Ausbildung“. Es handelt sich um Paul Goesch. Er war ein ausgebildeter Maler und Architekt und zählte damals zur künstlerischen Avantgarde.
„Berufskünstler“ weckten jedoch offenbar weniger das Interesse als „ungeübte Geisteskranke“. Vor allem Schizophrene schaffen, so Prinzhorn, „nicht selten Bildwerke, die weit in den Bereich ernster Kunst ragen und im Einzelnen oft überraschende Ähnlichkeiten mit Bildwerken der Kinder, der Primitiven und vieler Kulturzeiten“ zeigen. Die engste Verwandtschaft aber würde zur Kunst „unserer Zeit“ bestehen, fasste Prinzhorn seine Ergebnisse damals zusammen. Er meinte die Kunst des Expressionismus und Surrealismus.
Künstler faszinierte vor allem die Ursprünglichkeit, die Unmittelbarkeit des Ausdrucks, das Unbewusste. Paul Klee erkannte in den Werken Einblicke in ein „Zwischenreich“ jenseits der „normalen“ Wahrnehmung. Max Ernst, der ab 1910 in seiner Studienzeit in Bonn auch Vorlesungen über „Geisteskrankheiten“ besuchte, erforschte später in seiner Kunst die Grenzen des Wahnsinns. Klee und Ernst kannten das Buch von Prinzhorn und studierten die vielen Abbildungen. Ebenso die Surrealisten in Paris. Die „Bildnerei der Geisteskranken“ hätten sie als ihre Bibel angesehen, heißt es. Später wurde die Outsider Art, die Außenseiterkunst, von Jean Dubuffet zur Art Brut erklärt – zur unverbildeten, ungeschliffenen, rohen Kunst.
Aus der NS-Tötungsanstalt
Erstmals in Würzburg werden in der Kleinen Galerie des Martin-von-Wagner-Museums Bilder aus der Sammlung Prinzhorn präsentiert (siehe Kasten). Auch Franz Bühler und Paul Goesch sind vertreten sowie sieben weitere Männer. In der Würzburger Ausstellung „Ich. Mein Selbst“, die auf Initiative des Arbeitskreises Würzburger Stolpersteine entstand, steht noch ein weiterer Aspekt im Raum. Gezeigt werden Werke von Menschen, die jahrzehntelang in psychiatrischen Anstalten lebten, bevor sie 1940 oder 1941 in NS-Tötungsanstalten ermordet wurden. Sie sind Opfer der „Euthanasie“-Aktion T4 – wie Wilhelm Werner. Er war Patient in Werneck und verarbeitete in seinen Bleistiftzeichnungen seine Zwangssterilisation. Werner nannte sie „Sterelation“.
Ausstellung in Würzburg
Öffnungszeiten der Ausstellung „Ich. Mein Selbst. Selbstbilder aus psychiatrischen Anstalten“ im Martin-von-Wagner-Museum in der Würzburger Residenz (Südflügel): täglich außer montags von 10 bis 13.30 Uhr (bis 30. April).
Die nächsten Vorträge zur Ausstellung (Beginn 19 Uhr im Martin-von-Wagner-Museum):
14. April: „Psychische Ausnahmeerfahrungen in der Kunst. Die Sammlung Prinzhorn heute“, Dr. Thomas Röske, Leiter der Sammlung Prinzhorn der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg.
23. April: „Warum folgten sie Hitler? Zur Instrumentalisierung von Schamgefühlen durch den Nationalsozialismus“; Dr. Stephan Marks, Freiburg.
Führung und Ausstellungsgespräch mit Kuratorin Dr. Bettina Keß: 26. April, 11 Uhr.
Infos: www.stolpersteine-wuerzburg.de