Er streute 100 Millionen handgefertigte Sonnenblumenkerne aus Porzellan in die Londoner Tate Modern. Er ließ zur documenta in Kassel 1001 Landsleute einfliegen. Und er sammelt für spektakuläre Installationen die Rettungswesten gestrandeter Flüchtlinge aus dem Mittelmeer.
Alles bei Ai Weiwei ist groß und plakativ – und von ungeheuerem Furor getrieben: Chinas berühmtester Künstler, der nach seiner Verfolgung durch das Pekinger Regime seit zwei Jahren in Berlin lebt, will den Vergessenen und Verfolgten dieser Welt eine Stimme geben. An diesem Montag (28. August) wird der Bildhauer, Konzeptkünstler und Menschenrechtsaktivist 60 Jahre alt. Jedenfalls steht es so in seinem Pass, wie sein Sprecher versichert, auch wenn andere Quellen den 19. Mai nennen.
Sein Dokumentarfilm "Human Flow" hat in Venedig Premiere
Sein wohl schönstes Geburtstagsgeschenk hat Ai schon bekommen. Bei den Filmfestspielen in Venedig ist sein Dokumentarfilm „Human Flow“ über die globale Flüchtlingskrise für einen Goldenen Löwen nominiert. Am 1. September hat die Dokumentation am Lido Premiere – ein Ritterschlag.
Ein Jahr lang ist der Künstler dafür um den Globus gereist, hat in 23 Ländern mit Menschen gesprochen, die wegen Hunger und Naturkatastrophen, Krieg und Gewalt ihre Heimat verlassen mussten. In den vergangenen Jahren seien Tausende Menschen im Mittelmeer umgekommen, sagte er im Frühjahr, als er bei einer Ausstellung in Prag eine gigantische Schlauchboot-Installation enthüllte. „Das ist sowohl eine Tragödie als auch ein Verbrechen.“
Heimatlosigkeit und Entwurzelung sind seine Themen
Heimatlosigkeit und Entwurzelung sind auch in seinem eigenen Leben die prägende Erfahrung. Weil sein Vater, der chinesische Dichter und Maler Ai Qing, wegen seiner Regimekritik 20 Jahre lang aus Peking zwangsverbannt ist, wächst der Junge in Chinas Randprovinzen auf. Nach einem Studium in Peking lebt er zwölf Jahre in New York, lernt die zeitgenössische Kunstszene kennen und macht mit ersten Arbeiten auf sich aufmerksam.
Zurück in Peking, gerät er als „soziales Gewissen“ des Milliardenvolks zunehmend ins Visier der Behörden. Als er nach dem verheerenden Erdbeben in Sichuan 2008 erkunden will, wie viele Kinder in eingestürzten Schulen durch Pfusch am Bau ums Leben kamen, wird er politisch zur Unperson. Er darf im eigenen Land nicht mehr ausstellen, 2011 kommt er für 81 Tage in Haft, die Behörden behalten für Jahre seinen Pass ein.
In Berlin hat er schon seit Jahren ein riesiges Atelier
Als Ai 2015 endlich ausreisen darf, ist Berlin für ihn der selbstverständliche Zufluchtsort. Im Kulturzentrum Pfefferberg hat er schon seit Jahren neben seinem dänischen Künstlerfreund Olafur Eliasson ein riesiges Studio. An der Universität der Künste wartet die dreijährige Einstein-Gastprofessur – und vor allem leben hier sein Sohn und seine Lebensgefährtin. Er hatte die beiden schon ein Jahr zuvor aus Sicherheitsgründen nach Deutschland geschickt.
Seither ist Ai Weiwei gefragt wie nie. Das britische Kunstmagazin „ArtReview“ führte ihn 2015 in seinem jährlichen Ranking als den einflussreichsten Menschen im Kunstbetrieb weltweit nach dem Schweizer Galeristenehepaar Wirth. Und mit dem gleichen Elan, mit dem er bis dahin die Menschenrechtsverletzungen in seiner Heimat angeprangert hatte, widmet er sich nun dem Kampf gegen das Flüchtlingselend.
Der Grat zwischen Kunst und Kommerz, Mitgefühl und Selbstinszenierung ist schmal
Der Grat zwischen Kunst und Kommerz, Mitgefühl und Selbstinszenierung ist bei Ai manchmal recht schmal. So sorgte er im vergangenen Jahr für Aufsehen, als er das Bild des ertrunkenen syrischen Flüchtlingsjungen Aylan am Strand von Lesbos nachstellte. „Unendlich peinlich und unangemessen“, urteilte das Kunstmagazin „Art“ über den „Protest-Berserker“.
Und wo sieht Ai seine Zukunft? „Ich arbeite für Menschen, nicht für westliche Menschen oder für chinesische Menschen“, hatte er schon bei einem seiner ersten Interviews in Deutschland gesagt. Inzwischen hat er sich mit seiner neuen Heimat auf eine besondere Art angefreundet. „Für mich ist Berlin wie ein leeres Haus“, sagte er kürzlich. „Ich fühle mich wohl darin.“