
Sex, Rock 'n' Roll, Party - und wieder Sex. Vor allem Sex. Wer ein kleines bisschen mehr Themenvielfalt sucht, der ist falsch bei diesen vier Herrschaften. KISS – die vier Buchstaben stehen für all das, was nach der immer verkopfter werdenden Post-Hippie-Ära wichtig war: Spaß. Ja, klar, und eben Sex.
In den Siebzigern haben Gene Simmons, Paul Stanley, Ace Frehley und Pete Chris der Jugend gegeben, wonach sie lechzte. Die Jugend von damals ist alt geworden, doch sie bekommt's immer noch. Außer, dass Frehley und Chris gegangen, Thommy Thayer und Eric Singer gekommen sind, ist alles wie gehabt bei den US-Rockern: Sex, Rock 'n' Roll, Party – und Sex. In der Münchner Olympiahalle zeigen die Gottväter des Glam- und Stadionrocks über 12 000 begeisterten Fans einmal mehr, wie's gemacht wird. KISS sind längst mehr als eine Band, sie sind ein Phänomen.
44 Jahre auf Plateausohlen
44 Jahre mehr oder weniger die gleiche Show und dabei nichts an Faszination verlieren, das muss man KISS erst einmal nachmachen. 44 Jahre auf Plateau-Stiefeln durch eine dröhnende Hardrock-Glitzerwelt stapfen, das sollte Spuren hinterlassen bei Männern im Rentneralter. Hinterlässt es auch, doch das Quartett schmiert sich ja seit 44 Jahren erst die Spuren langer Nächte, später dann die des Alters mit zentimeterdicker Schminke weg. Schwarze Schnörkel auf weißem Grund – da sieht man eben auch mit 67 noch aus wie einst als junger Bursch‘. Gell, Herr Simmons? Der Band-Oldie, ein lausiger Bassist, aber grandioser Entertainer, hat's immer noch drauf: Mit seiner gewaltigen Zunge, die das Rolling-Stones-Emblem wie eine Fünf-Cent-Briefmarke aussehen lässt, rührt er vor „God of Thunder“ einen tüchtigen Schluck Kunstblut mit maximaler Hingabe durch sein zugekleistertes Gesicht.
Kollege Paul Stanley spielt etwas besser Gitarre und kann's deutlich besser mit den Stimmbändern. Wie das auch mit 65 trotz einer sechs Jahre zurückliegenden Stimmband-OP noch röhrt und kesselt – sensationell. Wenn dann noch bei „Crazy, crazy Nights“ Feuerfontänen durch die Gegend schießen, es überall blitzt und donnert, dann ist das Rock-Spektakel perfekt.
Effekte sind wichtig, Effekte gehören zu KISS-Shows, die stets ein bisschen daherkommen wie ein in 100 Minuten verpackter amerikanischer Traum. Mal spuckt Simmons Feuer („Firehouse“), mal fliegt Stanley, der mit dem Stern auf dem Auge, in die Hallenmitte („Psycho Circus“), mal wieder zurück („Black Diamond“). Kitsch, Kitsch, Kitsch – und dazwischen grandiose Hits wie „Lick it up“ (oh, ja, es geht um Sex), „Shout it out loud“ oder „Rock and Roll all Nite“.
Da wird von der ersten Sekunde an geklotzt und nicht gekleckert: „Alright München. You wanted the best, you got the best. The hottest band in the World: KISS” – dann schwebt das Quartett gen Boden und hämmert ins Instrumentarium, dass man um selbiges Angst haben muss. Lediglich Thayer pflegt bisweilen einen etwas filigraneren Umgang mit seiner Gitarre, spielt erstaunlich präzise Soli.
KISS hatten ja auch nie den Anspruch, besonders anspruchsvolle Musik zu machen. KISS waren immer schon erheblich anspruchsloser: Sie wollten und wollen die beste Band der Welt sein – mehr nicht. Schnörkellose Gigantomanie, made in USA. Und das können sie halt, die Amis. Harten Rock mit Glamour verbinden – geht nicht? Geht doch! KISS gelingt's mit der Perfektion einer Maschine. Da sitzt jeder Schritt, jede Armbewegung, jede Mimik, jeder Gag – alles.
Waschechte Arbeiter
Wer so professionell seinen Job erledigt, dem verzeiht man eben auch seit viereinhalb Jahrzehnten den Mangel an Seele. KISS sind waschechte amerikanische Rock-'n'-Roll-Arbeiter, Arbeiter, die nach einer harten Woche am Samstag nur noch Party im Kopf haben. Und Sex.
Auf Tour ist dann eben jeden Tag Samstag. Das ballern die Vier im Zugabenteil den Fans noch mal in ganzer Heftigkeit in die Ohren. „I was made für loving you“ (zu was sonst?) und „Detroit Rock City“ – so ging Hard Rock in den Siebzigern. Und so geht er auch heute. Und wer's immer noch nicht glauben mag, der bekommt's beim Verlassen der Olympiahalle noch einmal aus der Konserve: „God gave Rock 'n' Roll to you“ – wetten, dass KISS nicht wirklich Gott gemeint haben?