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FERNSEHEN
Killer mit Angstattacken: "Die Sopranos"
In Serie: In einer Reihe von Artikeln beschäftigen wir uns feuilletonistisch mit alten und neuen Fernsehserien. Heute: „Die Sopranos“ oder Wie alles begann.
Tony Soprano im Kreise seiner Lieben: James Gandolfini schrieb in der Rolle eines Mafiabosses Fernsehgeschichte.
Foto: HBO | Tony Soprano im Kreise seiner Lieben: James Gandolfini schrieb in der Rolle eines Mafiabosses Fernsehgeschichte.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 11.12.2019 15:01 Uhr

Man muss nicht unbedingt Mitglied einer Mafiafamilie sein, um zu wissen, dass der ärgste Feind möglicherweise ein Verwandter ist. Aber wenn man Mitglied einer Mafiafamilie ist, kann eine solche Feindschaft definitiv tödlich enden. Nichts Persönliches. Rein geschäftlich. Wenn Familienangelegenheiten immer auch Firmenangelegenheiten sind, kann das schon mal passieren. Dann kann es passieren, dass der Onkel, der einen als Kind immer mit zu Baseball-Spielen nahm, einen Killer auf einen ansetzt, nur weil man eine kleine Meinungsverschiedenheit über die ein oder andere Managementfrage mit ihm hat.

Tony Soprano formuliert das so: „Mein Onkel trägt zu meinem allgemeinen Stress-Level bei.“ Tony Soprano ist ein Mobster in New Jersey. Offiziell ist er im Entsorgungsmanagement tätig. Umwelt und so. Das ist er tatsächlich. Unter anderem. Allerdings besteht seine Arbeit nicht darin, Dienstleistungen zu managen, sondern Märkte zu sichern. Verträge an Land zu ziehen. Säumige Schuldner zur Räson zu bringen. Vor allem aber: die Familie in Schach zu halten.

Mit „Die Sopranos“, da sind sich heute alle Fernsehhistoriker einig, beginnt das Goldene Zeitalter des Fernsehens, wie Kevin Spacey die Jahre seit 1999 nennt. Die Serie, erstmals ausgestrahlt in den Jahren 1999 bis 2007 auf HBO, hat nicht nur das Bezahlfernsehen in den USA etabliert (für das frei empfangbare Programm wäre sie zu explizit und zu brutal gewesen), sondern vor allem in Sachen Regie, Schauspielkunst und Intensität Maßstäbe gesetzt. „Die Sopranos“, entwickelt, geschrieben und inszeniert von David Chase, haben Nachfolger wie „Breaking Bad“ erst möglich gemacht. Nie zuvor hat es diese Art von schonungslosem Verismo gepaart mit so viel genüsslicher Persiflage auf solch hohem künstlerischem Niveau gegeben.

Bei „Die Sopranos“ stimmt alles. Unglaublich hohes Tempo mit grotesk überspitzten, sehr oft sehr komischen und sehr bösen Verwicklungen, extreme Kameraeinstellungen, aufwendige Sets und exquisite Besetzung bis in die kleinste Nebenrolle. Im Laufe der Staffeln wird das Gewirr der Intrigen und Mordaufträge zwar ein wenig unübersichtlich, Tony Soprano aber bleibt beherrschende Identifikationsfigur – ob der Zuschauer das will, oder nicht. Eine Zeit lang war in den USA ein Autoaufkleber populär: „What would Tony Sopran do?“ – Was würde Tony Soprano tun? Nun, Tony Soprano fährt schon mal in einem öffentlichen Park vor aller Augen einen Schuldner mit dem Auto nieder und tritt dann noch auf ihn ein. Tony Soprano erwürgt schon mal in einer Kiesgrube einen Gegner und fährt dann, mit Kiesstaub an den Schuhen, seine Tochter von der Schule abholen. Aber Tony Soprano hat auch ein Herz. Vielleicht nicht unbedingt für Menschen, wohl aber für die Entenfamilie, die sich im Pool des rührend biederen, wenn auch großzügigen Vororthauses der Sopranos niedergelassen hat. Als diese Entenfamilie den Abflug macht, bricht Tony zusammen. Angstattacke, heißt es, die Röhre hat keine organischen Leiden gefunden. Und so landet Tony auf der Couch der Psychiaterin Dr. Jennifer Melfi, gespielt von der in Mafiarollen erfahrenen Lorraine Bracco („Good Fellas“). Wobei die Couch hier ein Sprachbild ist, ein Klischee. Tony würde sich niemals auf die Couch legen, es fällt ihm schon schwer genug, überhaupt das Sprechzimmer zu betreten.

Plötzlich soll er über seine Gefühle reden. Über Dinge, die er weder seiner Frau, noch seinen Geliebten und schon gar nicht seiner ebenso dementen wie bösartigen Mutter anvertraut. Außerdem: Nicht auszudenken, was passiert, wenn „die Familie“ herausbekommt, dass er kurz vor der Klapse steht. Das Motiv des Mafiabosses, der psychische Probleme bekommt und Hilfe braucht, gibt es in zwei Versionen, beide aus dem Jahr 1999 – als Komödie mit Robert De Niro und Billy Crystal („Reine Nervensache“) und eben als Serie. Heute wissen wir: Die Serie wird Bestand haben. Als James Gandolfini (1961–2013) als Tony Soprano die Bühne betrat, war er eine Sensation. Allein sein Gang entzückte das Feuilleton: Gandolfini wurde zum ultimativen Meister des Pimp Roll ausgerufen. Also jenes Gangs, für den Mann einen Bauch braucht, vor allem aber eine Art bösartiger Grundspannung und die erkennbare Bereitschaft, sein Revier jederzeit mit jeder erforderlichen Art von Gewalt zu verteidigen. Es gibt heute auf YouTube Lehrvideos für den Pimp Walk.

James Gandolfini wird darin wohl immer der unerreichte Meister bleiben, auch wenn der Gitarrist Steven Van Zandt (Bruces Springsteens E Street Band), der in den Sopranos eine Nebenrolle spielt und in „Lilyhammer“ als wahlnorwegischer Capo seinen großen Auftritt hat, ein würdiger Nachfolger ist.

Die Mischung aus Brutalität und Sensibilität, die Gandolfini auf den Bildschirm bringt, diese unerklärliche Fähigkeit, Empathie zu wecken, macht ihn zu einer der verstörendsten Figuren des Fernsehens. Zeigt seine Liebe zu den Enten, dass er tief drinnen doch ein guter Mensch ist oder gerne wäre? Kommen seine Angstattacken daher, dass er vielleicht doch so etwas wie ein Gewissen hat?

Vermutlich nicht, jedenfalls geht Tony sechs Staffeln buchstäblich über Leichen, und auch der seither heiß diskutierte offene Schluss der letzten Folge macht nicht viel Hoffnung in dieser Richtung . . .

 
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