Mehr als 1000 Seiten, zigmal durchgekauter Geschichtsstoff, Dutzende Figuren und Nebenfiguren – und das soll spannend sein? Ist es, wenn von Ken Folletts („Die Säulen der Erde“) neuem Roman „Winter der Welt“ die Rede ist. Im zweiten Band seiner Jahrhunderttrilogie nimmt sich der Waliser der Themen Nazireich und Weltkrieg an. Seine Helden sind zuweilen etwas hölzern, die Guten zu gut und die Bösen zu böse. Aber der Roman ist spannend, und dank gründlicher Recherche liest man ganz nebenbei ein Geschichtsbuch.
Man muss den ersten Band von Folletts Trilogie nicht gelesen haben, es ist aber hilfreich. Ging es in „Sturz der Titanen“ um den Weg zum Ersten Weltkrieg und dessen ganzen Irrsinn, beginnt „Winter der Welt“ 1933, mit dem Reichstagsbrand. Der aus dem ersten Buch bekannte Diplomat Walter von Ulrich und seine britische Frau Maud bilden den Anfang, doch im Grunde steht die nächste Generation im Mittelpunkt. Wie im ersten Buch sind es wieder Familien aus Großbritannien und Deutschland, den USA und der Sowjetunion, an deren Schicksal die Geschichte der westlichen Welt erklärt wird.
Und der Begriff „erklärt“ ist gar nicht so falsch, schließlich strotzen Folletts Bücher nur so von Informationen, und alle sind akribisch recherchiert. „Ich sammele Fakten und schaue mir alte Karten, Filme und Fotografien an, um einen Eindruck von der Zeit zu bekommen“, sagte der Schriftsteller der dpa. Dann heuert er Leute an, um all diese Fakten zu überprüfen. Kein Wunder also, dass man sich auf Follett verlassen kann. Dabei passieren zwar auch Fehler; so war Swingmusik im Nazireich nie offiziell verboten, und Stalins Alter verwechselt er einmal mit dem Hitlers. Doch diese Fehlerquote würde selbst einem Geschichtsbuch Ehre machen.
Dafür führt Follett auch vergessene Randaspekte ein. Zum Beispiel die Geschichte eines amerikanischen Unternehmers, dem mit einer raffinierten Intrige die Vergewaltigung einer Minderjährigen in die Schuhe geschoben wird. Solch einen Fall gab es wirklich, nur dass der Strippenzieher nicht Folletts (Anti)held Peshkow, sondern ein gewisser Joseph Kennedy gewesen sein soll – der Vater des späteren Präsidenten.
Pearl Harbor und Midway
Follett lässt kaum einen Aspekt aus: Spanienkrieg und Hitler-Stalin-Pakt, Euthanasie und Swingjugend, Pearl Harbor und Midway, Atombombenforschung und Atombombenspionage – nur der millionenfache Mord an den Juden kommt kaum vor. „Ich habe die Verfolgung am Beispiel der Familie Rothmann dargestellt“, erklärt er seine Entscheidung. „Ich wollte stattdessen über den Aspekt des Holocausts schreiben, der meinen Lesern am wenigsten vertraut ist: der Mord an behinderten Menschen im Programm, das als Aktion T4 bekannt wurde.“ Das ist Follett eindringlich gelungen. Dabei unterscheidet er fein zwischen „Nazis“ und „Deutschen“. Überhaupt ist der Ton seines Buches durchaus fair gegenüber dem Feind von damals. Der Brite erwähnt sogar, dass die Luftwaffe erst englische Wohngebiete angriff, nachdem es die Royal Air Force in Deutschland getan hatte.
Für ihn sei diese Fairness nichts Besonderes, sagte Follett der dpa: „Autoren sind nicht ,freundlich' zu irgendjemandem, aber wir müssen alle Seiten eines Konflikts beleuchten. Und ein Roman kann helfen, Geschichte zu verstehen.“
Ken Follett: Winter der Welt (Bastei Lübbe, 1024 Seiten, 29,99 Euro)