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Würzburg
Brecht-Stück in der Kirche: 5 gute Gründe, sich den "Kreidekreis" anzuschauen
Wer mit einer anstrengenden Politparabel und moralischer Belehrung rechnet, wird enttäuscht werden: Das Mainfranken Theater macht aus dreieinhalb Stunden rasante 100 Minuten.
'Möchtest du nicht auch, dass das Kind reich ist?' Der Richter (Matthias Fuchs) stellt Grusche (Jojo Rösler) eine Frage, die nicht ganz leicht zu beantworten ist.
Foto: Thomas Obermeier | "Möchtest du nicht auch, dass das Kind reich ist?" Der Richter (Matthias Fuchs) stellt Grusche (Jojo Rösler) eine Frage, die nicht ganz leicht zu beantworten ist.
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 10.05.2023 10:03 Uhr

Beeindruckende Spielstätte, rasante Handlung, große Emotionen – das Mainfranken Theater spielt "Der kaukasische Kreidekreis" in der Kirche St. Andreas und widerlegt möglicherweise das ein oder andere Brecht-Vorurteil. Denn wer aus fernen Schulzeiten noch sperrige Begriffe wie episches Theater im Hinterkopf hat und mit einer anstrengenden Politparabel rechnet, wird hier eines besseren belehrt. Keinen geringen Anteil daran hat übrigens die Poesie der Sprache Bertolt Brechts, die oft hinter dem seit fast 100 Jahren andauernden Diskurs zu Brechts Theatertheorie zurücktritt. Hier sind fünf Gründe, warum es sich lohnt, Brecht wiederzuentdecken.

1. Das Stück

Die titelgebende Szene: die Gouverneurswitwe (Sina Dresp) und Grusche (Jojo Rösler) sollen beweisen, dass sie als Mutter die Kraft haben, das Kind aus dem Kreidekreis zu ziehen.
Foto: Thomas Obermeier | Die titelgebende Szene: die Gouverneurswitwe (Sina Dresp) und Grusche (Jojo Rösler) sollen beweisen, dass sie als Mutter die Kraft haben, das Kind aus dem Kreidekreis zu ziehen.

Wem gehört ein Kind, wem steht es zu? Der leiblichen Mutter, die es zurückließ, oder der Frau, die es unter Einsatz des eigenen Lebens rettete?

Ein Umsturz, der Gouverneur wird ermordet, seine Frau flieht und lässt ihr Neugeborenes zurück. Sie rettet lieber ihre Kleider. Das Küchenmädchen Grusche findet das Kind und flieht ihrerseits mit ihm. Immer wieder riskiert sie ihr Leben, um es zu schützen. Schließlich schlägt sich Grusche in ein Bergdorf durch, wo sie das Kind als ihr eigenes ausgibt und zur Tarnung eine Scheinehe eingeht.

Doch dann kehrt die Gouverneursfrau zurück und fordert die Herausgabe des Kindes, weil sie ohne den Erben nicht an die Güter ihres Mannes kommt. Die Sache landet vor Gericht, dem der durch und durch korrupte Dorfschreiber Adzak vorsteht. Es kommt zur Probe mit dem Kreidekreis, die dem Urteil des Salomo nachempfunden ist – nur mit umgekehrtem Ausgang ...

Bertolt Brecht schrieb "Der Kaukasische Kreideskreis" im amerikanischen Exil. Die deutsche Erstaufführung fand 1954 in Ostberlin statt und erregte sofort das Misstrauen der Partei. Kein Wunder, denn Brecht stellt zwar das Recht auf angestammten Besitz infrage, aber eben auch die Legitimität von Machtapparaten jeglicher Couleur. Das radikal individualistische Verhalten Drusches ist als Vorbild denkbar ungeeignet für jedes gleichmacherische System.

2. Der Hintergrund

Die Kleider retten oder lieber das Kind? Da braucht die Gouverneurswitwe (Sina Dresp) nicht lange zu überlegen.
Foto: Thomas Obermeier | Die Kleider retten oder lieber das Kind? Da braucht die Gouverneurswitwe (Sina Dresp) nicht lange zu überlegen.

Warum gerade dieses Stück in dieser Zeit? Das Stück ist sozusagen im Schnellverfahren auf dem Spielplan des Mainfranken Theaters gelandet. Die Corona-Auflagen hatten einen Großteil der ursprünglichen Planungen über den Haufen geworfen. "Es geht darum, was passiert, wenn ein Ordnungsrahmen wegfällt. Wie einigt man sich auf einen Konsens?", fragt Schauspieldirektorin Barbara Bily.

Das Stück sei ihr – wieder – in die Hände gefallen, als in Afghanistan gerade die Taliban an die Macht kamen. So bilden die Themen Umsturz und Flucht einen direkten Bezug, nicht so sehr in politischer, sondern vor allem in menschlicher Hinsicht: Wie ist es möglich, sich in rechtloser Zeit integer zu verhalten? Oder besser: Was spricht dafür, es zu tun, und nicht wie (fast) alle anderen zu versuchen, vom Chaos zu profitieren und sich zu bereichern?

Regisseurin Bea Martinek sagt: "Es geht um gesellschaftliche Verantwortung. Sieht man nur sich selbst oder auch die anderen?" Die zentrale Frage also, die Jeder und Jede für sich beantworten muss, für die aber auch jedes Gemeinwesen Lösungen entwickeln muss. Aktueller geht es nicht, da braucht es keine Anspielungen auf die Pandemie.

3. Der Spielort

Der Beton der Kirche und der eingebaute Steg bilden eine einheitlich graue Spielfläche. Rechts Georg Zeies als Sänger. 
Foto: Thomas Obermeier | Der Beton der Kirche und der eingebaute Steg bilden eine einheitlich graue Spielfläche. Rechts Georg Zeies als Sänger. 

Die von Lothar Schlör entworfene, 1968 geweihte Kirche St. Andreas in der Würzburger Sanderau wird der Architekturströmung des Brutalismus zugeordnet. Damit ist nicht so sehr eine brutal anmutende Gestaltung gemeint, sondern vor allem die Verwendung von Sichtbeton. Das Kirchenschiff von St. Anton ist eine riesige, steil aufragenden Pyramide. In den halbrund gestellten Bänken darunter finden knapp 900 Menschen Platz, unter den gegenwärtigen Auflagen etwa 150.

Stephanie Dorn (Bühne und Kostüme) hat den Altar mit einem Steg in Sichtbeton-Optik überbaut, so dass die gesamte Kirche zur einheitlich grauen Spielfläche wird. Eine stilisierte Welt, in der Licht (Mariella von Vequel-Westernach, Shedy Zaki, Andreas Huhn) und Musik (Adrian Sieber und Lutz Koppetsch) Schauplätze und Emotionen markieren und charakterisieren. Es entsteht eine ideale Folie für die Fantasie, in der naturalistische Bilder nur stören würden.

4. Die Regie

Emotionen erlaubt: Martin Liema als feiger Bruder und Jojo Rösler als beharrlich menschliche Grusche.
Foto: Thomas Obermeier | Emotionen erlaubt: Martin Liema als feiger Bruder und Jojo Rösler als beharrlich menschliche Grusche.

Bea Martinek und Barbara Bily haben das Stück von dreieinhalb Stunden auf etwa 100 pausenlose, ereignis- und emotionsreiche Minuten gekürzt und lassen, wie inzwischen allgemein üblich, die Rahmenhandlung weg. Die Regisseurin macht außerdem die Figuren identifizierbar, die Situationen erlebbar, die Emotionen fühlbar. Für den von Brecht geforderten Bruch der Illusion ist die Figur des Sängers zuständig (beunruhigend präsent: Georg Zeies), der Handlungssprünge erklärt und Wendungen kommentiert. Bea Martinek gelingt zudem eine elegante Verzahnung, die beginnt, als der Sänger seinen weißen Schal zusammenlegt und in den Korb bettet: Dies ist fortan der umkämpfte Säugling.

5. Das Ensemble

Alles Opportunisten: hinten Sina Dresp als Gouverneurswitwe und Thomas Klenk als Provinzfürst, vorne Martin Liema und Bastian Beyer als Handlanger der Macht.
Foto: Thomas Obermeier | Alles Opportunisten: hinten Sina Dresp als Gouverneurswitwe und Thomas Klenk als Provinzfürst, vorne Martin Liema und Bastian Beyer als Handlanger der Macht.

Jojo Rösler ist eine anrührend sture Grusche, Matthias Fuchs ein hinreißend schlitzohriger Richter. Sina Dresp ist eine klatschspaltentaugliche Gouverneurswitwe, Thomas Klenk ein gruselig hinterhältiger Provinzfürst und Anselm Müllerschön ein sympathischer Verlobter Simon. Bastian Beyer und Martin Liema haben sichtlich Spaß an ihren Verwandlungen von Panzerreitern in Ärzte, Anwälte und zurück und Isabella Szendzielorz an ihren Versionen diverser Schreckschrauben.

Jubel und langer Beifall für eine kurzweilige Inszenierung ganz ohne moralische Belehrung.

Weitere Vorstellungen: 21., 22., 28. Januar; 1., 3., 6., 10., 12., 19., 24. Februar. Kirche St. Andreas, Sanderau, Würzburg. Karten: www.mainfrankentheater.de, Tel. (0931) 3908-124, karten@mainfrankentheater.de

 
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