Wer bei Google den Namen Karl ins Dialogfenster tippt, erhält von der Internet-Suchmaschine als ersten Vorschlag „Karl Dall“. Karl der Große folgt erst weiter hinten. Google sortiert seine Vorschlagsliste nach dem Interesse der Internet-Gemeinde. Die hält einen mäßig lustigen Komiker also für wichtiger als den Herrscher aus dem Frühmittelalter. Wenn sie sich da bloß nicht täuscht, die Internet-Gemeinde.
Denn auch wenn Karl der Große seit 1200 Jahren tot ist – er starb am 28. Januar 814 in Aachen vermutlich an den Folgen einer Lungenentzündung: Sein geistiges Erbe ist quicklebendig und beeinflusst auch den Alltag des Jahres 2014. Dass wir das aktuelle Jahr als 2014 bezeichnen, hat mit einer karolingischen Kalenderreform zu tun. Vor der Mitte des 8. Jahrhunderts wurde das jeweilige Jahr im Frankenreich nach den Regierungsjahren der Könige benannt, erklärt Dr. Franz Fuchs. Es waren die frühen Karolinger, welche die Jahreszählung nach der Geburt Christi in ihrem gesamten Herrschaftsgebiet etablierten. „Und die Buchstaben, die Sie jetzt gerade für Ihre Notizen verwenden, gehen ebenso auf die karolingische Bildungsreform zurück“, sagt der Würzburger Professor für Mittelalterliche Geschichte. Die „Karolingische Minuskel“, die das Schriftbild gut lesbar macht, breitete sich von den Schreibzentren des Frankenreiches schnell aus. Sie ist Grundlage der heutigen Schreibschrift. „Karl der Große hat die Weichen gestellt für Bildung und Wissenschaft in Europa“, so Fuchs. Am Hof Karls habe sich eine der „ganz großen Epochen der europäischen Kunst entwickelt. Es gab Spitzenleistungen in Dichtung und Buchherstellung“. Karl ließ auf Papyrus geschriebene Texte kopieren, die sonst zerfallen wären. Und: „Die Fossa Karolina, also die Verbindung zwischen dem Flusssystem des Rheins und dem der Donau, war ein gewaltiges Bauprojekt, auch wenn es nicht erfolgreich zu Ende gebracht wurde.“
Freilich: „Auch Karl der Große hatte seine dunklen Flecken“, bremst der Historiker etwa aufkommende allzu große Begeisterung: „Er war auch ein Eroberer.“ Karl führte Kriege quer durch den Kontinent, um das Reich zu vergrößern, das er von seinem Vater Pippin übernommen hatte. Karls Herrschaftsbereich erstreckte sich auf dem Höhepunkt seiner Macht von den Pyrenäen und Mittelitalien bis zur Nordseeküste, vom Atlantik bis zum heutigen Thüringen. Sein Reich hielt er auch mit Gewalt zusammen.
Doch Karl war auch ein gewiefter Politiker. Die Krönung zum Kaiser an Weihnachten des Jahres 800 war ein geschickter Schachzug. Papst Leo III. war wegen seines unsittlichen Lebenswandels in Verruf geraten. Man wollte ihn aus dem Amt treiben. Karl stützte den Papst – und verlangte im Gegenzug die Krönung zum Kaiser. Er wurde der erste abendländische Kaiser des Mittelalters. Und machte auch damit Schule: Bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein hatte das von ihm neu begründete „.römische Kaisertum“ Bestand.
Karl nutzte geschickt die Infrastruktur der Kirche, um zu regieren. Die Kirche verfügte über ein weitverzweigtes Informationsnetz. Da wurde auch für den Kaiser gebetet. Und weil im frühen Mittelalter praktisch jeder den Gottesdienst besuchte, wurde Karl zur bekannten Größe für seine Untertanen. Ganz ohne Zeitung, Fernsehen und Internet. Münzen mit des Kaisers Konterfei taten ein Übriges. Zudem hatte das Frankenreich keine Hauptstadt im eigentlichen Sinne. „Aachen war lediglich der Wintersitz“, sagt Professor Fuchs. Karl liebte es, dort die Thermen zu besuchen. Ansonsten war Karls Regierungssitz – der Sattel. „Er hat über Jahrzehnte hinweg Europa durchstreift, um vor Ort persönlich seine Herrschaft zu repräsentieren“, so Fuchs. „Karl war überall im fränkischen Reich bekannt – und sogar darüber hinaus“, vermutet der Wissenschaftler.
Karls Regierungsstil – ständig unterwegs – „stellte auch Ansprüche an die physische Konstitution“, überlegt der Würzburger Professor. Der Kaiser war wohl ein großer, kräftiger Mann. Untersuchungen seiner Gebeine legen nahe, dass er zwischen 1,89 und 1,92 Meter maß. Einhard, der als wichtiger Mann am Hofe Karls den Herrscher erlebte, beschreibt ihn in seiner Biografie „Vita Karoli Magni“ als spitzbäuchig, mit breitem Nacken, Doppelkinn und Schnauzbart. Er soll mit ungewöhnlich hoher Stimme gesprochen haben. Zwar ist Einhards Biografie, entstanden um das Jahr 829, also etwa 15 Jahre nach Karls Tod, keine exakte Lebensbeschreibung. „Es ist Literatur“, sagt Franz Fuchs, „Einhard orientierte sich an den Kaiserbiografien des Sueton.“ Doch „aus der Luft gegriffen“ sei die Schilderung von Karls Äußerem wohl nicht. Gegen Ende seines Lebens hat der Mann, dem die Ärzte rieten, kein gebratenes, sondern nur gesottenes Fleisch zu essen, wohl etwas gekränkelt. Laut Einhard wurde Karl 72 Jahre alt. „Heute geht die Forschung davon aus, dass er mit Mitte 60 starb.“ Schon das ist, für die damalige Zeit, ein hohes Alter. 46 Jahre lang saß er auf dem Thron. Auch das ist ungewöhnlich lange.
Bereits zu seinen Lebzeiten rankten sich Legenden um die Person des Kaisers, vielleicht, um den bedeutenden Mann ein bisschen fassbarer, volkstümlicher zu machen. So soll Karl sich, allein mit seinem Hund, bei der Jagd im Spessart in die Behausung von drei frommen Einsiedlern verirrt haben. Die bewirteten den ihnen unbekannten Gast, so gut das in einer Einsiedelei eben geht. Dem Kaiser gefiel das dermaßen, dass er die Brüder zu höheren Aufgaben berief. Zwei schickte er ins Kloster Neustadt am Main. Den dritten, Burkhard, machte er zum ersten Bischof von Würzburg. Eine Legende nur. Wahr sei indes, dass Karl in der Stiftungsurkunde von Kloster Neustadt am Main erwähnt wird, so der Neustadter Heimatforscher Klaus Weyer. Er soll bei der Weihe im Jahr 781 dabei gewesen sein. Gut bezeugt ist aber, dass Karl der Große mehrfach Würzburg besuchte und politisch wie wirtschaftlich die Entwicklung der Siedlung am Mainübergang zur Stadt unterstützte. Auch in den Jahrhunderten nach seinem Tod wucherten die Legenden.
„Karl der Große war zu allen Zeiten nach seinem Tode präsent“, sagt Fuchs. Jede Zeit schuf sich ihr eigenes Karlsbild. 1165 wurde er sogar zum Heiligen. Kaiser Friedrich Barbarossa wollte seinen Vorgänger zur Ehre des Reiches aus den irdischen Sphären entrücken. Also wurde Karl von Papst Paschalis III. heiliggesprochen. Dieser war allerdings ein Gegenpapst. Offiziell hatte seinerzeit Alexander III. den Stuhl Petri inne. Ob die einzige Heiligsprechung durch einen Gegenpapst gültig ist oder nicht, darüber wird durchaus kontrovers diskutiert. Der weltgeschichtlichen Bedeutung des Kaisers tut das keinen Abbruch: „Ohne Karl den Großen und die um 800 erfolgte Bildungsreform sähe Europa heute sicher anders aus“, resümiert der Historiker Fuchs. Was wird man in 1200 Jahren wohl noch von Karl Dall wissen?
Die Universität Würzburg veranstaltet vom 6. bis 8. Februar eine Tagung zum Thema „Karlsbilder in Kunst, Literatur und Wissenschaft“. Karlsbiograf Johannes Fried hält am 6. Februar, 19.30 Uhr, im Audimax der Neuen Universität (Sanderring) einen öffentlichen Vortrag zum Thema „Die Aktualität Karls des Großen“.