
Die Halbzeitbilanz des 66. Internationalen Filmfestivals Locarno fällt gut aus. Der Wettbewerb um den Hauptpreis, den Goldenen Leoparden, überzeugt mit Qualität. Die abendlichen Freiluftaufführungen von Filmen außerhalb der Konkurrenz für rund 8000 Zuschauer auf der malerischen Piazza Grande locken selbst bei Regen ein großes Publikum mit viel Unterhaltung und Starpower. Starken Beifall gab es vom Großteil des Publikums und der Journalisten für den deutschen Wettbewerbsbeitrag „Feuchtgebiete“. Der Film wurde nach der Aufführung am Sonntagabend von mehr als 3500 Zuschauern bejubelt.
Beim anschließenden Publikumsgespräch gab es vielfach eine geradezu enthusiastische Zustimmung. Die Adaption des bei seinem Erscheinen 2008 als Skandal gehandelten Romans von Charlotte Roche gilt vielen als Mitfavorit auf den Goldenen Leoparden.
Bei einer international besetzten Pressekonferenz zum Film gab es allerdings auch einige wenige Stimmen, die Roman und Film pauschal als „ekelhaft“ klassifizierten. Charlotte Roche, die Autorin der Buchvorlage, die zur Aufführung des Films nach Locarno gekommen war, konterte pointiert. Sie sagte: „Vor Jahrzehnten haben Frauen öffentlich ihre Büstenhalter verbrannt, um die Emanzipation voranzutreiben. Das muss man leider immer mal wiederholen.“ Der Beifall dafür war stark. Charlotte Roche ist von der Inszenierung und dem Spiel der Darsteller begeistert, wie sie mit strahlendem Lächeln am Ufer des Lago Maggiore versicherte: „Ich bin sehr glücklich über diesen Film.“ Sie ergänzte: „Ich hatte ja bewusst entschieden, mich nicht einzumischen. Mein Vertrauen in David Wnendt und die anderen ist aufs Schönste bestätigt worden.“
Regisseur Wnendt setzte das Porträt der 18-jährigen Helen mit sehr viel Feingefühl um. Ihre Obsession für Hämorrhoiden, Sperma und Vaginalflüssigkeit wird begreifbar als Flucht vor der Angst, von der Umwelt nicht als Persönlichkeit wahrgenommen zu werden, vor dem Schmerz des Alleinseins. Der mit Meret Becker, Christoph Letkowski und Axel Milberg auch in Nebenrollen exzellent besetzte Film fesselt zudem insbesondere als sensible Auseinandersetzung mit der Furcht vor dem Sterben.
Hauptdarstellerin Carla Juri sieht den Film „als Auseinandersetzung mit universellen Themen“. Das habe ihr auch das Spielen expliziter Nacktszenen leicht gemacht. Dazu sagte die im Februar auf der Berlinale als einer von zehn europäischen Shooting-Stars ausgezeichnete Schauspielerin: „Ich empfinde eine große Empathie für Helen. Deshalb kann ich ihre extreme Rebellion, die ja nicht kalkuliert ist, sondern ihren Gefühlen und ihrem Schmerz entspricht, auch ohne Scheu spielen.“
Auch außerhalb des Wettbewerbs begeistert das deutsche Kino in Locarno. Viel Beifall gab es für die hintersinnige Komödie „Vijay and I“ des belgischen Regisseurs Sam Gabarski. Hauptdarsteller Moritz Bleibtreu wurde vom Publikum für seine Interpretation eines irrtümlich für tot erklärten Berliner Schauspielers in New York stürmisch gefeiert. Der Film, der am 5. September in den deutschen Kinos anläuft, straft das Klischee von den humorlosen Teutonen augenzwinkernd und charmant Lügen. Neben „Feuchtgebiete“ gilt bisher der französische Wettbewerbsbeitrag „Gare du Nord“ als stärkster Anwärter auf den Goldenen Leoparden. Regisseurin Claire Simon taucht mit dem Film in das alltägliche Geschehen auf dem berühmten Bahnhof Gare du Nord in Paris ein. Die von einem melancholischen Grundton getragene Erzählung enthüllt effektvoll in zahlreichen Episoden Sorgen, Hoffnungen und Träume von Menschen aus allen sozialen Schichten.
Am Sonntag, 25. August, stellen Charlotte Roche und Carla Juri im Cineworld im Mainfrankenpark ab 13 Uhr den Film „Feuchtgebiete“ vor. Roche liest dabei auch aus ihrem Roman.