Ihre Ideen holt sich Joyce Carol Oates beim Joggen. Der Rest sei „harte Arbeit“, sagt sie. Über 50 Romane hat die Amerikanerin geschrieben, etwa so viele wie ihre Landsleute Philip Roth, Don DeLillo und Thomas Pynchon zusammen. Wie die Kollegen gilt sie seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. Anders als die scheut sie aber weder das Scheinwerferlicht noch soziale Medien. Oates ist bei Facebook, schreibt Blogs, meldet sich täglich bei Twitter. Wer die zarte Frau mit den großen Brillengläsern bei Lesungen oder im Fernsehen sieht, glaubt kaum ihr Alter: Joyce Carol Oates wird am Sonntag, 16. Juni, 75 Jahre alt.
Gewalt und Tragödie
Oates entmythisiert, was andere den „amerikanischen Traum“ nennen. In fast all ihren Werken deckt sie die Kehrseite der Vision vom Streben nach Glück und Erfolg auf, zeigt, wie Gewalt und Tragödie den Menschen korrumpieren: „Ich glaube, dass Kunst nicht behagen darf. Dafür haben wir die Massenunterhaltung, und dafür haben wir einander. Kunst sollte provozieren, beunruhigen, Gefühle aufwühlen und unsere Sympathien dorthin lenken, wo wir sie nicht erwarten und vielleicht auch gar nicht haben wollen.“
Manche Kritiker sehen in Oates nicht nur die produktivste, sondern auch erfolgreichste Autorin des amerikanischen Romans seit William Faulkner. Ihre Aufmerksamkeit für gesellschaftliche Nuancen wird mit der von Honoré de Balzac verglichen und ihre Begeisterung fürs Fabulieren mit der von D. H. Lawrence. In bunter Reihenfolge verfasst sie gesellschaftskritische Bücher, Analysen der Rassen- und Klassenstrukturen in den USA, Romanzen und Krimis, Familiensagas und Satiren – im Schnitt zwei Werke pro Jahr.
Ein blubbernder Schreibrausch
In „Zombie“ (1995), dem Psychogramm eines Kannibalen, verrät Oates, was sie offensichtlich antreibt: „Ein stiller blubbernder Schreibrausch“. Der Vorwurf der Fließbandschreiberei bleib ihr nicht erspart. Zweifel an ihrem „literarischen Ernst“ erregte sie auch mit Beiträgen für den „Playboy“ und der Detailtreue, mit der sie Verbrechen aus den Nachrichten in ihren Romanen übernahm.
Ungeachtet der Kritik, dem Tod ihres Mannes nach 47-jähriger Ehe und den Verpflichtungen als Professorin an der Elite-Universität Princeton, ist Oates nicht zu bremsen. Auf ihrer Internetseite kündigt sie nach ihren jüngsten Werken („Daddy Love“, eine Horrorgeschichte, und „The Accursed“, ein Schauerroman) für 2013 noch vier Novellen an. 2014 sollen zwei Romane folgen.