Die Geschichte dieses Buches könnte selbst aus einem Roman stammen. Da ist ein junger Autor, stotternd und unbekannt, der Anfang der 1950er Jahre hoffnungsvoll ein Manuskript einreicht – und vergeblich auf eine Antwort wartet. Er verstummt ob der Demütigung. Erst Jahre später veröffentlicht José Saramago (1922-2010) wieder ein Buch, schafft den Durchbruch und wird einer der bekanntesten Autoren Portugals. Eines Tages klingelt sein Telefon: Der Verlag hat das einst verschmähte Manuskript durch Zufall wiedergefunden.
„Claraboia“ hätte Saramagos zweiter Roman werden sollen. Nun ist er drei Jahre nach dem Tod des Nobelpreisträgers auf Deutsch erschienen, denn der Autor erteilte einer Veröffentlichung des verschollen geglaubten Frühwerks zu seinen Lebzeiten eine Absage. Das Buch ist eine eindringliche Erzählung aus dem Portugal der Salazar-Diktatur, in dem die Menschen sich mehr schlecht als recht durchs Leben wurschteln und unter der Last der bleiernen Zeit innerlich verkümmern. Es spielt fast vollständig in einem Wohnhaus, folgt einige Monate dem Schicksal der Bewohner. Saramago schaut hinter die Fassaden, seziert Sehnsüchte, Frust und Intrigen.
In diesem Haus ist das Unglück Dauerzustand. Die Bewohner spionieren und betrügen, hassen und neiden. Die Familie als sicherer Rückzugsort fällt bei den meisten aus, sie offenbart sich vielmehr als Wiege von Hass und Verzweiflung. „Vater und Sohn liebten sich nicht, weder sehr noch wenig – sie sahen sich nur jeden Tag“, heißt es über eine Familie.
Amüsante Boshaftigkeiten
Da ist die verrufene Dona Lídia, die sich von einem reichen Geschäftsmann aushalten lässt und deren Mutter nur bei ihr auftaucht, um ein Stück von diesem Kuchen abzugreifen. Ein Ehepaar lebt nach dem Tod seines Kindes in einem emotionalen Kriegszustand, der einzig und allein die Demütigung des anderen zum Ziel hat. So kreist der Roman des damals gerade 30-Jährigen um die Qual des Zwischenmenschlichen, erzählt mit sicherer, präziser Sprache voller amüsanter Boshaftigkeit. Der Autor, der in seinen späteren Büchern eine Stadt erblinden ließ („Die Stadt der Blinden“) und Gott als machtgeilen Zyniker darstellte („Das Evangelium nach Jesus Christus“), legte dieses Frühwerk als Kammerspiel an.
Für die damalige Zeit ist es ein mutiges Werk, das Institutionen infrage stellt und subtil das emotionale wie materielle Elend anprangert. Doch es gibt nicht nur Schatten, wie schon der Titel andeutet: „Claraboia“ bedeutet Oberlicht oder Dachfenster. Dieses Licht in düsteren Zeiten findet sich zum Beispiel in der alten Mariana, „so dick, dass man lachen musste, so gütig, dass einem die Tränen kamen“. Ihr Mann Silvestre ist es, der sich im Zwiegespräch mit seinem Untermieter Abel gegen die „Nutzlosigkeit des Lebens“ stemmt. In seiner Figur ist die politische Haltung des bekennenden Kommunisten Saramago zu erkennen. „Der Tag, an dem es möglich sein wird, auf Liebe zu bauen, ist noch nicht gekommen“, sagt Abel am Ende.
Saramagos Witwe Pilar del Río schreibt im Vorwort: „Claraboia ist das Tor zu Saramago und wird für jeden Leser eine Entdeckung sein. Als schlösse sich nun ein Kreis. Als gäbe es den Tod nicht.“
José Saramago: Claraboia oder Wo das Licht einfällt (Hoffmann und Campe, 352 Seiten, 22,99 Euro)