Was ist Weltmusik? Mögliche Definition: Wenn im unterfränkischen Bad Brückenau eine Folksängerin aus den USA ein Gedicht des türkischen Lyrikers Nâzim Hikmet singt, das den Opfern von Hiroshima gewidmet ist, das „Kleine tote Mädchen“ beklagt. „Kinder werden nicht geboren, um getötet zu werden, sondern um Süßigkeiten zu naschen“, sagt Joan Baez und widmet ihrerseits das Lied „den Freunden in der Türkei, sie sind nicht vergessen“.
Samstagabend im Kurpark von Bad Brückenau. 3000 Zuhörer teilen mit der 75-jährigen „Mrs. Peace“ den Wunsch nach einer friedlichen Welt. Und sie reisen mit ihr zurück in eine Zeit, als Lieder geschrieben wurden über Wahrheit und Menschlichkeit, gegen Krieg, Rassismus und Unterdrückung. Mit „We Shall Overcome“ ist Baez einst zur Frontfrau der Bürgerrechtsbewegung und Anti-Vietnam-Proteste geworden. Heute, im Zeitalter der Oberflächlichkeiten, spielt sie vor mitgealtertem Publikum in Kurstädtchen Sommerkonzerte. „Wow! Fantastic“, ruft die Liedermacherin angesichts der ausverkauften Reihen – und singt gerade und aufrecht los. Ohne große Show, ohne Pathos, ohne Lichtspektakel.
Als Bühnenmöblierung dienen allein Notenständer, Mikro und ein kleines Tischchen mit der Tasse Warmgetränk darauf. Der größte Aufwand ist, dass ihr nach jedem Song eine frischgestimmte Gitarre gereicht und eingestöpselt wird.
Mit Bob Dylans „Farewell, Angelina“, dem Titelsong des gleichnamigen Albums von 1965, eröffnet Baez den Abend. Und mit „God Is God“, der Hymne von Steve Earle. Seit 25 Jahren schreibt sie selbst keine eigenen Lieder mehr – aber covert, was Größe hat und Relevanz. Nach den ersten, natürlich legendären Nummern kommen ihre beiden Musiker auf die Bühne, später auch eine starke Mit-Sängerin, der Abend gewinnt musikalisch an Tiefe und Fahrt. Manchmal, da meint man ein wenig Zittern in der Stimme zu hören, eine kleine Brüchigkeit. Aber dann wieder: Nein, auch mit 75 singt Joan Baez unverwechselbar wie Joan Baez. Reif und warm in den Tiefen, sanft und intensiv und in den Höhen immer wieder mädchenhaft hell. Mit dieser Glockenstimme hat die Sängerin die amerikanische Gegenkultur der vergangenen Jahrzehnte mitgeprägt.
Und das Publikum teilt ihre Gefühle und Gedanken. Ein bunter Schal wird ihr während des Konzerts von einer Zuhörerin gereicht. Ein Autogrammjäger bettelt am Bühnenrand um eine Unterschrift. Und kommt erst zum Zuge, als eine zweite Zuhörerin ihm eine Blume zusteckt, die er Baez als „fairer Deal“ weiterreicher kann. „Gracias a la vida“, danke an das Leben. Jetzt hält es die Zuhörer nicht mehr auf den Sitzen, bei Paul Simons „The Boxer“ ist die Bühne dicht umlagert.
Als Reverenz singt Joan Baez – auf charmantem Deutsch – Konstantin Weckers „Wenn unsere Brüder kommen“, als Zugabe später dann Marlene Dietrichs „Sag mir wo die Blumen sind“. Und viele, viele, viele singen und summen zart mit. „Wunderschön!“, nickt Baez anerkennend. Und kommt nach 100 Minuten, bevor sie ein „Gute Nacht“ zwitschert, noch ein letztes Mal auf die Bühne, mit Dylans „Blowin In The Wind“. Weltmusik eben.