Das kleine Welttheater in zehn Kisten und dem original Lummerland-Modell, mit Bergen aus dunkelgrün gefärbtem Sackleinen, mit Tunnel und Eisenbahnbrücken. Und dort, in schwindelnder Höhe, zwischen Frau Waas' Kaufladen und dem Schloss des legendären Königs Alfons dem Viertelvorzwölften, entdecken wir ein noch legendäreres Dreigestirn: die Lokomotive Emma mit den Lokomotivführern Lukas und Jim Knopf an Bord.
Wo sind wir? Nein, nicht in den Träumen aus seligen Kindertagen. Auch nicht beim trauten Familienfernsehnachmittag mit den DVDs der Augsburger Puppenkiste. Wir sind allein unter Freunden und Vertrauten in einem Saal des Kissinger Museums Obere Saline, wo noch bis 30. April eine kleine Ausstellung über die berühmteste deutsche Marionettenbühne zu sehen ist.
Gestalten, die viel Freude bereitet haben
Von ihren Guckkastenbühnen aus, die sich hinter den nun geöffneten Puppenkisten verstecken, blicken die Gestalten neugierig in unsere Zeit. Dorthin, wo wir Betrachter stehen und die Persönlichkeiten bewundern, die unzähligen Kindern und Erwachsenen seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts so viel Freude bereitet haben, in über 150 Fernsehproduktionen: Die Bremer Stadtmusikanten, der gestiefelte Kater, der Froschkönig, Jim Knopf und Lukas natürlich, König und Königin von Pumpelonien, Urmel aus dem Eis, ja sogar das Mädchenfußballteam aus Steffis Sommermärchen.
Sie alle und noch viel mehr haben Freude bereitet und tun es immer noch, wenn auch in kleineren Formaten als dem Fernsehen, denn der Kinderkanal der öffentlich-rechtlichen Sender hat bereits vor einigen Jahren die Puppenkisten-Inszenierungen aus seinem Serienrepertoire gestrichen.
Zu antiquiert für heutige Sehgewohnheiten?
Nach Auffassung der Programmkommission von ARD und ZDF seien sie zu antiquiert für heutige Interessen und Sehgewohnheiten der Jüngsten. Das mag so sein, wenn man sieht, wie halbgare Geschichten und eine Menge liebloser Produktionen über die Bildschirme jeglicher Provenienz, nein: nicht mehr flimmern, sondern höchst aufgelöst in die Gemüter der Nachwachsenden dringen.
Da wären die TV-Inszenierungen der Augsburger Puppenkiste so etwas wie ein Gegenmittel gegen die fortschreitende Verseichtung des Kinderprogramms: Liebevoll langsam in Szene gesetzt, augenzwinkernd, fassbar, zeitlos. Kleine Gesamtkunstwerke – dramaturgisch, stimmlich, musikalisch. Diese Art von Geschichtenerzählen hat es schwer im hektischen Medienbetrieb.
Wer würde sich denn noch am tiefgründig traurigen und trotzdem lebensfreundlichen Gesang des See-Elefanten aus „Urmel aus dem Eis“ laben, der so viel über den Zustand sensibler Gemüter in einer unheilen Welt ausdrückt? Viele würden wegzappen, bevor das sanfte Wesen auf der Klippe die erste Zeile von „Öch woiß nöcht, was soll ös bödoiten“ intoniert hätte.
Augsburger Puppenkiste mit top Auslastungsquoten
Trotz alledem: Es scheint nicht aller Tage Abend zu sein für die Kunst des Puppenspiels. Das sagen uns die Auslastungsquoten der Augsburger Puppenkiste: 95 Prozent bei 420 Vorstellungen pro Jahr in ihrem 220-Plätze-Theatersaal. Das rufen uns die unterschiedlichsten Marionetten zu, die da in ihren Puppenkisten posieren oder, an Fäden in Reihe aufgehängt, im Raum stehen, und davon zeugen, wie lebendig die Augsburger Puppenkiste auch unabhängig von TV-Produktionen war und ist, in Inszenierungen für Kinder und für Erwachsene.
Dass die Kunst des Figurentheaters nach wie vor bezaubern kann, erzählt uns auch der Puppenspieler Hans Kautzmann, der den Aufbau der Kissinger Ausstellung begleitete. Seit 29 Jahren ist er ein honoriges Mitglied der Augsburger Puppenkiste, die - 1948 von Walter Oehmichen ins Leben gerufen - inzwischen in vierter Generation als Familienbetrieb mit 80 Mitarbeitern geführt wird.
Der Puppenspieler gerät ins Schwärmen, wenn er daran denkt, wie die wildesten Kerle verstummen, wenn es im Theatersaal dunkel wird, sich die Puppenkiste langsam öffnet, der samtrote Vorhang der Guckkastenbühne zur Seite rückt und das Spiel beginnt. Diese Augenblicke haben immer noch eine erstaunliche Wirkung auf die jungen Zuschauer: Sie lassen sich förmlich in die Geschichte ziehen. Die fantastischen Kulissen tun das Ihre, die Musik, die Stimmen, die brillante Führung der Marionetten an den seidenen Fäden. Der Zauber wirkt also selbst im Zeitalter ständig schrumpfender Aufmerksamkeitsschwellen. Es braucht halt eine intime Atmosphäre, in der die Geschichten lebendig werden können.
Die Intimität des Kissinger Ausstellungsraums ist allerdings so beengend, dass Kinder nur in kleinen Grüppchen an den Puppenkisten vorbeiflanieren sollten. Auch an den beiden Videostationen sollten Warteschlangen vermieden werden. Beim Begleitprogramm bis Ende April sieht es da schon besser aus: Puppenspieler Thomas Glasmeyer wird mit seinem "piccolo teatro espresso" mehrfach gastieren, auch das Puppentheater "Lari-Fari" aus Dorfprozelten wird zugegen sein und selbstverständlich gibt es im Gewölbekeller eine „Urmelnacht für Urmelfans“.