Kaum vorstellbar, dass sich irgendjemand dieser Ausstrahlung entziehen könnte. Diesem Witz, dieser Wut, dieser Wucht, aber auch dieser Feinheit, dieser Sensibilität und dieser Vielfalt. Jean-Michel Basquiat gehört längst zu den großen Legenden der Kunst des 20. Jahrhunderts, seine Arbeiten sind seit vielen Jahren unerschwinglich, erst vergangenen Mai ist eines seiner Gemälde bei Sotheby's für 110,5 Millionen Dollar versteigert worden – der höchste Preis, der je für eine Arbeit eines amerikanischen Künstlers erzielt wurde.
Dabei ist sein Werk in gerade mal acht Jahren entstanden. Jean-Michel Basquiat starb 1988 mit 27 Jahren an einer Überdosis Heroin. Kein Wunder, dass die Versuchung groß ist, ihn in die Reihe der früh vollendeten Ikonen der Popkultur zu stellen, die in genau diesem Alter die Bühne verließen. Jimi Hendrix etwa, Jim Morrison oder Janis Joplin.
Dieser höchst fotogene, elegante, lässige junge Mann, dessen Gesichtszüge auf Fotos immer irgendwie Schüchternheit, Neugier, Willensstärke, Trotz und Triumph gleichzeitig ausdrücken, der schreibt, zeichnet, malt, tanzt, musiziert, als sei er nur dazu geboren, der sich selbst wie nebenher immer wieder neu inszeniert – Basquiat, das bedeutet vielen bis heute vor allem Coolness.
Voreilige Kategorisierung
„Vielleicht aufgrund einer solch voreiligen Kategorisierung überwiegt die Mythisierung des Künstlers die wissenschaftliche Betrachtung seiner künstlerischen Arbeit“, schreibt Philipp Demandt, Chef der Frankfurter Kunsthalle Schirn, im Vorwort zum Katalog der Ausstellung „Basquiat – Boom For Real“.
Die Schirn zeigt in Zusammenarbeit mit dem Londoner Barbican Centre bis 27. Mai über 100 Werke des schwarzen Künstlers aus Brooklyn mit haitianischen und puerto-ricanischen Wurzeln. In dieser Fülle und Tiefe ist diese Ausstellung – nach 1986 erst die zweite einer deutschen Kunstinstitution – den großen Retrospektiven von Brooklyn 2005 und Basel 2010 durchaus ebenbürtig.
Denn Basquiat-Ausstellungen sind für jedes Museum, jeden Kurator eine Herausforderung – das Werk befindet sich überwiegend in Privatbesitz, die großen Häuser verschliefen damals schlicht die Blitzkarriere dieses Hochbegabten, den stattdessen findige und finanzstarke Sammler für sich entdeckten und sehr bald sehr hohe Preise zahlten.
Graffiti-Sprüche als Eintrittskarte
New York, Ende der 1970er Jahre. Eine bankrotte Stadt am Abgrund, ganze Viertel verfallen, die Kriminalität floriert. 1975 hatte das Weiße Haus Finanzhilfen verweigert – dem damaligen Präsidenten Gerald Ford hängt seither (unberechtigterweise) das Zitat „Drop dead“ (Fallt tot um) an, das ihn denn auch die Wiederwahl kostet.
Dennoch: In Soho brummt eine einzigartige Kunstszene – Ausstellungen, Partys, Konzerte, Performances, Happenings fließen zu einer Art kreativem Dauerrausch zusammen, in dem eben auch Drogen eine große Rolle spielen. 1978 tauchen überall im Viertel rätselhafte und hintersinnige Graffiti-Sprüche auf, sogenannte Tags, gezeichnet mit SAMO©. Ein Beispiel: „A Pin Drops Like A Pungent Odor“ (Eine Nadel fällt wie ein scharfer Geruch).
Die Szene ist elektrisiert, das Magazin „The Village Voice“ ruft SAMO© auf, sich zu melden. Wie sich herausstellt, stecken Basquiat und sein Schulfreund Al Diaz hinter den Tags, die sich für die beiden als ersehnte Eintrittskarte in Sohos kreative Kreise erweisen.
Ein Gruppenfoto von 1984 zeigt Jean-Michel Basquiat mit Andy Warhol, Julian Schnabel, Alex Katz, Keith Haring, Robert Mapplethorpe, Nam June Paik, Jenny Holzer, Meredith Monk und einigen anderen. Da ist er längst selbst ein Star. Bereits 1982 hat er als 22-Jähriger an der Documenta7 in Kassel teilgenommen.
Er arbeitet pausenlos. Er bemalt alles, was ihm in die Finger gerät, Türen, Fenster, Bleche, Holzstücke, Geschirr, Alltagsgegenstände, anfangs aus Geldmangel, später als Teil seines allumfassenden Gestaltungswillens.
Weltaneignung und Selbsterkundung
Basquiat ist von Anfang an Basquiat. Er kombiniert in hochkomplexen Schichtungen Schrift (unter typografischen, rhythmischen und natürlich semantischen Aspekten) mit zeichenhaften Zitaten aus Kunstgeschichte, Wissenschaft, Werbung oder Medien und mit wilden, kühnen, oft drastischen malerisch Setzungen. Und ganz nebenbei, etwa im Doppel-(Selbst-)Porträt mit Andy Warhol „Dos Cabezas“ von 1982 (rechts unten), zeigt er sich als meisterhafter Porträtist.
Jean-Michel Basquiats Bilder sind Weltaneignung, Selbsterkundung und Selbstvergewisserung in einem. Unzählige Anspielungen, Zitate, Verweise und ironische Brechungen machen sie für den Betrachter zu unerschöpflichen Erkundungsobjekten. Basquiat ist ein unersättlicher Leser und Musikhörer, sein Wissen ist enzyklopädisch, seine Plattensammlung umfasst 3000 LPs, während er arbeitet läuft immer der Fernseher oder das Radio.
Eine bedeutende Rolle spielt die Auseinandersetzung mit seiner afroamerikanischen Herkunft – im Gegensatz zum Jazz (er verehrt Charlie Parker) gibt es für Basquiat in der Bildenden Kunst keine schwarzen Vorbilder. Dafür aber eine lange Geschichte (und eine Gegenwart) der Unterdrückung, Ausgrenzung und Diskriminierung.
Die vielleicht stärkste Arbeit der Ausstellung ist ein Selbstporträt von 1983 (großes Bild). Im Grunde nur eine dicke schwarze Farbfläche mit dem Umriss von Schultern und Kopf und zwei Aussparungen für die Augen, gewinnt es in seiner maximal verdichteten Darstellung von Haltung, Blick und Körperspannung beinahe erschreckende Präsenz.
„Basquiat – Boom For Real“, Kunsthalle Schirn, Frankfurt: bis 27. Mai. Der opulente und umfassende Katalog kostet 35 (Schirn) beziehungsweise 49,95 Euro (Buchhandel). Öffnungszeiten: Dienstag, Freitag–Sonntag 10–19 Uhr, Mittwoch und Donnerstag 10–22 Uhr


