Wer sich gegen etablierte Ansichten stemmt, hat kein leichtes Leben. Wenn einer deswegen noch drei Jahrhunderte später verteufelt wird, dann muss er schon etwas ganz Schlimmes gesagt haben. Oder die Wahrheit. Denn die ist oft unangenehm und passt den Mächtigen nicht in den Kram. „In manchem katholischen Lexikon wird Jean-Jacques Rousseau wie der leibhaftige Beelzebub dargestellt“, sagt Winfried Böhm. Der Würzburger Pädagogikprofessor – emeritiert und noch voller Ideen und Projekte – hat zum 300. Geburtstag des Franzosen (am 28. Juni) mit einem französischen Kollegen ein Buch über Rousseau geschrieben. Böhms Fazit: „Er ist einer der größten Denker der abendländischen Geschichte.“ Und er war ein unbequemer Geist, was Böhm gerade recht ist. Er ist selber einer, der gerne querdenkt.
Rousseau tischte unangenehme Wahrheiten auf. Besser: Er tischt. Denn seine Thesen haben, meint Böhm, nichts von ihrer Brisanz verloren. Grob zusammengefasst, hält Rousseau den Menschen grundsätzlich für gut. Böse wird er erst dadurch, dass er von Kindheit an auf das Funktionieren in einer Gesellschaft hingetrimmt wird. Rousseau verärgerte damit weltliche Machthaber ebenso wie die Kirche. Denn die lehrt es ja genau anders: Wegen der Erbsünde komme der Mensch böse auf die Welt und müsse zum Guten erst erzogen werden, durch Schulen, Kirchenbesuche, Beichten. Für Kirche und den damals absolutistischen Staat waren das Instrumente zur Machtausübung – und Möglichkeiten, auch über die Gedanken ihrer Untertanen zu herrschen. Rousseaus Roman „Emile“ (1762) landete denn auch prompt auf dem Index. Der Autor entzog sich einem Haftbefehl durch Flucht. Der Sohn eines Genfer Uhrmachers, eines „seltsamen Kauzes“, sagt Böhm, war nie zur Schule gegangen. Doch er lief mit wachen Augen durch die Welt und sah: Sie ist nicht gut. Trotz aller Bemühungen der Pädagogen. Oder gerade wegen der Bemühungen?
Rousseau baute sein eigenes Weltbild auf der Basis eines „Gedankenexperiments“, erklärt Winfried Böhm. Er abstrahierte alle Eigenschaften, die der Mensch durch Erziehung und gesellschaftliche Einflüsse erwirbt, und kam zu einer Art „Urmensch“. Der verbringt sein Leben in Selbstzufriedenheit. Doch die Bevölkerung wächst. Die Menschen leben immer enger zusammen. „Und irgendwann“, erklärt der Professor, „zieht einer einen Zaun und beansprucht ein Stück Land für sich. Der Nächste macht es ihm nach, beansprucht sogar ein noch größeres Stück.“ Bald ist aus der Selbstzufriedenheit Geltungssucht geworden. Jeder misst sich am anderen. Jeder will mehr als der andere. Die Gabe des Mitleids, die der fiktive Naturmensch noch hatte, verkümmert. Egoismus übernimmt das Ruder.
Womöglich ist Jean-Jacques Rousseau eine Art ewiger Revolutionär und 300 Jahre nach seiner Geburt aktueller denn je. Während Winfried Böhm die Grundzüge der Rousseau'schen Philosophie skizziert, wird der fatale Weg der Menschheit bis in unser Jahrtausend deutlich: Die westliche Gier-Gesellschaft muss immer mehr produzieren, immer mehr konsumieren, um zu überleben. Dabei werden andere rücksichtslos ausgebeutet, der Planet langsam zugrunde gerichtet.
Was kann man gegen das tun? Zurück zur Natur? Auch wenn dieses Schlagwort immer wieder mit Rousseau in Verbindung gebracht wird: „Es ist nirgendwo in seinen Schriften zu finden“, sagt Winfried Böhm. Es wäre auch nicht durchführbar: Rousseaus glücklicher Urzustand hat nie existiert, er ist ein reines Gedankenkonstrukt. Es gibt kein Zurück.
Außer, man ändert grundlegend die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen. In seinem „Gesellschaftsvertrag“ schichtet Jean-Jacques Rousseau die Macht um. Sie müsse von unten nach oben ausgeübt werden, fordert er. Mit seinen demokratischen Ideen wurde Rousseau zum Wegbereiter der Französischen Revolution. Er beeinflusste auch Karl Marx. Das macht ihn vielen noch heute suspekt . . .
Konsequent zu Ende gedacht, ist das mit dem Umschichten der Macht freilich nicht so einfach. Wenn's gut gehen soll, müssten die an der Basis sich einig sein. Das sind sie nie (zu beobachten an der Realität). Und so wird die Rangelei unter den Menschen immer weitergehen. Irgendeine Gruppierung wird immer stärker sein als die andere und ihre Macht ausnutzen.
Die pessimistische Sicht auf den Zivilisationsprozess, die für ihn grausame Gewissheit, dass „Erziehung den Menschen verdirbt, statt ihn zu bessern“, wie Winfried Böhm plakativ formuliert: All das zermürbte Rousseau. Der vielseitig begabte Philosoph und Literat, der sogar eine Oper schrieb, der in seinem Leben neben Ablehnung auch viel Anerkennung fand – er starb am 2. Juli 1778 vereinsamt und als Menschenfeind.
Rousseaus „Emile“
Das pädagogische Hauptwerk von Jean-Jacques Rousseaus erschien 1762. Es ist ein fiktiver Text. Emile ist ein gesunder, durchschnittlich begabter Junge aus reichem Hause mit Jean-Jacques – ein Alter Ego des Autors – als seinem einzigen Erzieher. Emile soll als erwachsener Mensch in der Lage sein, in der Zivilisation zu bestehen, ohne an seiner Person Schaden zu nehmen. Emile darf nicht Sklave von Ehrgeiz, falschen Bedürfnissen und der Meinung anderer werden.
Auch der Gesellschaftsvertrag – Rousseaus Idee einer neuen politischen Ordnung – spielt in der Erziehung von Emile eine Rolle.
Die natürliche Religion beruht laut Rousseau auf Erfahrungen und Überlegungen, die allen zugänglich sind. Emile soll keine Weltanschauung aufgedrängt werden, damit er die wählen kann, zu der ihn seine eigene Meinung führt.
Der „Emile“ sagt viel aus über das Bild, das Rousseau vom Menschen und der Gesellschaft hatte. Zitat: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen. Der Mensch zwingt ein Land, die Erzeugnisse eines anderen hervorzubringen, einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen. Er vermengt und vertauscht das Wetter, die Elemente und die Jahreszeiten. Er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seine Sklaven. Alles dreht er um, alles entstellt er. Er liebt die Missgeburt, das Ungeheuer. Nichts will er haben, wie es die Natur gemacht hat, selbst den Menschen nicht. Man muss ihn, wie ein Schulpferd, für ihn dressieren, man muss ihn nach seiner Ansicht stutzen wie einen Baum seines Gartens.“
Zwei Sätze weiter heißt es: „Unter den heutigen Verhältnissen wäre ein Mensch, den man von Geburt an sich selbst überließe, völlig verbildet. Vorurteile, Macht, Notwendigkeit, Beispiel und alle gesellschaftlichen Ereignisse, unter denen wir leben müssen, würden die Natur in ihm ersticken, ohne etwas an ihre Stelle zu setzen.“ (Zitate aus: Winfried Böhm/Michel Sotand: Jean-Jacques Rousseau – Der Pädagoge; Ferdinand Schöningh, 149 Seiten, 19,90 Euro).