Na endlich, möchte man laut ausrufen. Na endlich wird wieder darüber gestritten, ob eine Installation auf einer der wichtigsten europäischen Kunstausstellungen nun tatsächlich Kunst ist, eine pure politische Provokation oder gar nur Vermögen und Ruhm des Künstlers mehren soll. "Mögest du in interessanten Zeiten leben" – das ist das Motto der Biennale, die noch bis 24. November geöffnet hat. Interessante Zeiten für die Kunst sind es allemal.
Das Schiff des Anstoßes steht auf einem Tieflader am Ufer des Hafenbeckens im Arsenale, der früheren Militär-Werft der Venezianer, die heute einer der beiden Ausstellungsorte ist neben den Giardini, den Gärten, dem Ursprung der seit 1895 durchgeführten Ausstellung, die alle zwei Jahre Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt zusammenbringt. In diesem Jahr sind es 76 in der Hauptausstellung und insgesamt 90 Länder-Beiträge.
Etwas über 20 Meter lang, blau und rot gestrichen, zwei riesige Löcher im Rumpf. Zunächst ist das einfach nur ein kaputtes Schiff, man kann achtlos daran vorbeigehen, im Café gegenüber einen Espresso trinken und über die eben gesehene geballte Ladung Kunst parlieren. Und darüber reflektieren. Christoph Büchel, Urheber des Werks, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Flucht, er ist kein Profiteur des Themas, sondern schon immer ein Künstler, der mit seinen Werken aufrütteln will. In Belgien baute er einst ein Flüchtlingscamp in einen Museumsraum voller Bilder von Picasso oder Kandinsky.
Biennale-Kurator Ralph Rugoff wurde dafür kritisiert, sich zu Büchels Schiff nicht geäußert zu haben und zu der Frage, ob es nicht so anklagend dasteht, dass die anderen Kunstwerke untergehen. Warum sollte er? "Political Correctness führt nicht zu großer Kunst", so der grundsätzliche Standpunkt des früheren Kunstkritikers aus den USA, der seit langem schon als Ausstellungsmacher arbeitet. "Kunst produziert keine alternativen Fakten, sondern alternative Perspektiven."
Deshalb steht Christoph Büchels Schiff genau an der richtigen Stelle zur richtigen Zeit. Die Politisierung der Biennale ist in vielen Bereichen sichtbar. Der deutsche Pavillon erklärt sich zum "Ankerzentrum", wenngleich schwer verkopft und nur mit Mühe erfassbar. Natascha Süder Happelmann treibt ein Spiel mit Identitäten. Wie Büchel lässt sie den Betrachter alleine mit seinen Gedanken, außer dem Katalog gibt es keine Erklärung für die skurril wirkende Installation.
Streetart-Ikone Banksy hat übrigens auch in der Lagunenstadt ihre Spuren hinterlassen – mit einer Protestaktion gegen den Kreuzfahrt-Irrsinn in der Haupteinkaufsstraße sowie einem Graffito, das auf den ersten Blick der Freiheit huldigt. Wer genau hinschaut, sieht ein Flüchtlingskind in Schwimmweste.
Der Pole Roman Stanczak hat ein ganzes Flugzeug von innen nach außen gedreht, auf den ersten Blick ein riesiger Haufen Kabel, Schrauben und Blech. Auf den zweiten ein Sinnbild der polnischen Gesellschaft in all ihrer Zerrissenheit und allgegenwärtigen populistischen Zugespitztheit.
Fast schon wohltuend ist die Zurückhaltung der Künstler, nicht dem Offensichtlichen zu erliegen und sich des Mannes im Weißen Haus anzunehmen. Populisten entlarven sich selbst, dazu bedarf es keiner expliziten künstlerischen Auseinandersetzung. Es sind eher die stillen, zurückhaltenden Installationen, die alles sagen über Menschen wie Trump oder den italienischen Ex-Innenminister Matteo Salvini, der natürlich auch seinen Senf zu Christoph Büchels Schiff dazugeben musste. Hätte er mal lieber die Biennale besucht, anstatt sie zu instrumentalisieren.
Die Installation von Shilpa Gupta hätte zur Erkenntnis beigetragen, was politische Verfolgung und Einschränkung der Meinungsfreiheit bedeuten. Gupta hat 100 Schriften von Dichtern gesammelt, die aus politischen Gründen zwischen dem 7. Jahrhundert und heute eingesperrt wurden. In einer düsteren Installation hört man die Texte in Originalsprache. Eine kakophonische Anklage formuliert von denen, die den Mächtigen den Spiegel der Selbsterkenntnis vorhielten und dafür mit oder gar Leben zahlten.
Der weiße Mann kommt im übrigen ziemlich schlecht weg, ein Thema in vielen Länderpavillons, in Chile, Südafrika oder Kanada. Immer wird dem Thema Identität und Herkunft nachgespürt. Wegweisend der kanadische Pavillon, in dem die Inuit eine Plattform bekommen. Der nachgestellte Dokumentarfilm erzählt, wie in den 1960er Jahren ein kanadischer Regierungsbeamter eine in Iglus als Jäger auf den Eisschollen lebende Großfamilie überzeugen will, in die Siedlung zu ziehen. Dort würden die Kinder unterrichtet, die Eltern hätten ein Einkommen. Der weiße Mann und seine Hybris zu glauben, er allein wisse, wie die Welt zu leben habe – viel eindringlicher kann man das kaum beschreiben.
Biennale-Besuche lohnen nicht nur wegen des geballten Blicks auf weltweite Kunstentwicklungen, sondern auch wegen der vielen weiteren Ausstellungen. Einer der Themenschwerpunkte ist die Natur, besonders das Meer. Ein Muss ist die kurze Vaporetto-Fahrt zum Benediktiner-Kloster auf der Giudecca, wo das farbenprächtige, überdimensionale Werk "Jakob's Leiter" des irischen Künstlers Sean Scully mitten in der Kirche zu sehen ist. Ausdrücklich weisen die Mönche daraufhin, dass sie gerade wegen der vielen Diskussionen über die Zukunft der katholischen Kirche den Dialog zwischen Klerikern und Künstlern nötiger denn je hätten.
Eine unverhoffte Preziose gibt es in einer Galerie für die Reichen und Schönen nahe dem Markusplatz zu entdecken: Hier finden sich wunderbare Fotografien des großen Tänzers Mikhail Baryshnikov.
Kunst-Biennale in Venedig, geöffnet bis 24. November. Ausstellung mit 76 Künstlerinnen und Künstlern in den Giardini und im Arsenale sowie 90 Länderpavillons in der gesamten Stadt. Täglich außer Montag 10 bis 18 Uhr. Infos: www.labiennale.org