Findet der Mensch im Angesicht des Todes zu sich selbst? Fokussiert sich sein Blick aufs Wesentliche, weil er weiß, dass für Unwichtiges keine Zeit mehr ist? Letzte Werke sind von Mythen umweht. Bachs „Kunst der Fuge“, bei dem ihm quasi der Tod die Feder aus der Hand nahm – die Komposition bricht mitten in einem Gedanken ab –, gilt heute als eines der größten Meisterwerke der Musikgeschichte. Auch Mozarts letztes Werk, das „Requiem“, das der gerade mal 35 Jahre alte Komponist nicht vollenden konnte, ist von der Aura des Geheimnisvollen umgeben.
Die Frankfurter Schirn Kunsthalle spürt dem Mythos des letzten Werkes in der Bildenden Kunst nach (siehe Kasten). 100 Bilder zeigen: Am Ende eines Lebens stehen oft außergewöhnliche Leistungen. Und eines eint die Künstler: Mag der Lebensfaden noch so dünn sein – sie klammern sich an ihre Arbeit, die untrennbar mit ihrer Existenz verwoben ist. Ohne Kunst kein Leben. Doch jeder Mensch verarbeitet die Erfahrung des nahenden Todes anders, je nach Lebensgeschichte, Charakter oder Religiosität. Die Geschichte des letzten Werkes – und womöglich auch der damit verbundene Mythos – ist vor allem eine Geschichte des Individuums, das es schuf.
Kleinformatige Meditationen
Alexej von Jawlensky starb 1941. Der 1864 oder 1865 in Russland geborene Künstler wusste seit 1929, dass es mit seiner Schaffenskraft rapide zu Ende ging: „Arthritis deformans“ wurde diagnostiziert, mit der Prognose, er werde über kurz oder lang völlig gelähmt sein. Der tiefreligiöse Maler begann 1934 in völliger Isolation meditative Bilder zu malen – meist unter großen Schmerzen. Innerhalb von drei Jahren entstanden rund 1000 dieser kleinformatigen „Meditationen“. Jedes der Bilder, in deren Zentrum ein Kreuz steht, hätte sein letztes sein können, dessen war Jawlensky sich bewusst – und vielleicht fand er dadurch wirklich zum Wesentlichen, jedenfalls aus seiner Sicht. 1936 schrieb der zuletzt in Wiesbaden lebende Künstler in einem Brief: „Ich arbeite nur für mich und für meinen Gott. Die Ellbogen schmerzen dabei sehr, oft bin ich dabei wie ohnmächtig vom Schmerz. Aber meine Arbeit ist mein Gebet.“
Henri Matisse (1869 bis 1954) hat seine letzten Werke geradezu inszeniert. 1941 musste er sich einer schweren Operation unterziehen – Darmkrebs. Er erlitt zwei Lungenembolien, lag drei Monate lang in der Klinik. Anschließend warf ihn eine Grippe zwei Monate aufs Bett. Der geschwächte Künstler konnte sich kaum mehr aufrecht halten. Bis zu seinem Tod musste er von einem Korsett gestützt werden. Er sah diese 13 Jahre als geschenkte Lebenszeit. Fotografien zeigen den Franzosen, wie er im Sitzen mit einem langen Pinsel malt. Notgedrungen ist sein Spätwerk aber durch Scherenschnitte geprägt. Es war für den Meister eine Möglichkeit, sich in seinem körperlichen Zustand noch auszudrücken. Es ist extreme Reduktion und Konzentration. Doch selbst mit Handicap brachte der Künstler die Formen zum Tanzen . . .
Notgedrungen fand auch Edouard Manet (1832 bis 1883) in seinen letzten Bildern zur Reduktion. Der Meister der großen Gesellschaftsszenen, der Schöpfer des „Frühstück im Grünen“, malte in seinen letzten Lebensmonaten Blumen in Vasen. Manet litt seit Ende der 1870er Jahre an Syphilis. Er spürte den Tod nahen. Die Geschlechtskrankheit war damals unheilbar. Depressiv wirken die Blumenstillleben dennoch nicht. Eher lebensbejahend und wie ein Fest des farbigen Lebens, wie eine Beschwörung der Lebenskraft. Als habe Manet nicht aufgeben wollen. Aufgegeben hat auch Walker Evans (1903 bis 1975) nicht. Der US-Fotograf fand am Ende seines Lebens zu einer neuen Ausdrucksform: Geschwächt von Krankheit und Alter, war er nicht mehr in der Lage, seine Fotoausrüstung zu handhaben. Er schaffte eine Polaroid an – und schoss mit der simplen Sofortbildkamera und der Erfahrung des Profis über 1000 Bilder, die Alltägliches, Banales zu Kunst machen.
Weisheit und Erfahrung, Vereinfachung und Abstraktion, Vertiefung und heitere Gelassenheit: Der Mythos von Kunst, geschaffen mit dem Tod vor Augen, hat Wurzeln in der Wirklichkeit. Davon erzählt die Ausstellung in Frankfurt.
Sie erzählt auch von der Ironie des Schicksals. Andy Warhols letzte Werke beschäftigen sich mit dem „Letzten Abendmahl“. Mit jenem Bild, in dem Leonardo da Vinci Jesu Abschied vom Leben und von seinen Freunden zeigt. Ein passendes Thema für ein letztes Werk. Nur: Warhol rechnete sicherlich nicht mit seinem baldigen Ableben. Der Guru der Pop-Art starb 1987 bei einer Routineoperation an der Gallenblase. Da war er 58 Jahre alt.
Die Ausstellung
Die Frankfurter Schirn zeigt „Letzte Bilder – von Manet bis Kippenberger“, rund 100 Werke, die in den letzten Jahren vor dem Tod der Künstler entstanden. Zu sehen sind unter anderem großformatige Seerosenbilder von Claude Monet, geheimnisvolle Gemälde von Giorgio de Chirico, außerdem Arbeiten von Francis Picabia, Georgia O'Keefe, Bas Jan Ader, Andy Warhol und anderen Künstlern des 19. und 20. Jahrhunderts.
Öffnungszeiten: Dienstag und Freitag bis Sonntag 10-19 Uhr, Mittwoch, Donnerstag 10-22 Uhr. Die Ausstellung „Letzte Bilder“ dauert bis 2. Juni.
Gleichzeitig zeigt die in Frankfurts Stadtmitte gelegene Kunsthalle – bis 12. Mai – die Ausstellung „Yoko Ono – Half-A-Wind Show“. Die Retrospektive zum künstlerischen Schaffen der heute 80-jährigen John-Lennon-Witwe ist herrlich verspielt und dennoch voll Tiefsinn. Auch viel Musik ist zu hören. Text: hele