Im Grunde ist die Kulturgeschichte des Wilden Westens – oder des Far West, des fernen Westens – durch „Lucky Luke“ hinreichend abgehandelt. Goldrausch, Siedlertrecks, Kopfgeldjäger, Rinderbarone, Indianer, Kavallerie, Saloonschlägereien und Duelle im Straßenstaub, Telegraf und Eisenbahn – der Zeichner Morris und der geniale Texter René Goscinny (Asterix, Isnogud) haben dieses einzigartige Konglomerat an Mythen in ihrer Comicreihe sehr, sehr witzig und ziemlich authentisch entwirrt. Dabei haben historische Persönlichkeiten wie Billy the Kid, Abraham Lincoln oder Mark Twain ebenso ihren Auftritt wie – ganz nebenbei – moderne Figuren wie die Schauspieler und Regisseure Jean Gabin, Alfred Hitchcock oder François Truffaut.
Vor allem aber spielen Morris/Goscinny genüsslich auf die immer gleiche Ästhetik und die immer gleiche Dramaturgie einer der wichtigsten Säulen amerikanischer Populärkultur an: auf den Western. Auf den immer neuen Kampf zwischen Gut und Böse vor einer immer gleichen Kulisse der Mittelmäßigkeit und der Gleichgültigkeit.
Für den Guten hat der Sieg zum Wohle der Allgemeinheit immer einen hohen Preis: Nach jedem glücklich bestandenen Abenteuer reitet Lucky Luke einsam gen Sonnenuntergang davon – nichts könnte besser zusammenfassen, was vom Helden des Western erwartet wird. Oder, um es mit Camus zu sagen: Man muss sich Sisyphos glücklich vorstellen. Die Serie „Hell on Wheels“ (Staffel 2 läuft derzeit auf TNT Serie, am 20. August beginnt Staffel 3) wurzelt tief in diesem Fundament. Es gibt den zölibatären (wenn auch nicht unbedingt enthaltsamen) Helden, und es gibt den ruchlosen Bösewicht.
Die Handlung setzt kurz nach dem Bürgerkrieg ein, im Mittelpunkt steht der Bau der transkontinentalen Eisenbahn, den Präsident Abraham Lincoln initiiert hat. Von Osten her arbeitet sich die Union Pacific voran, von Westen die Central Pacific. Es ist ein Wettrennen aufeinander zu, das mit aller Härte und Gemeinheit geführt wird – jedes durchquerte Gebiet wird für die jeweilige Gesellschaft fortan Einfluss- und Profitgebiet sein.
Vor allem aber ist der Eisenbahnbau eine Möglichkeit, auf Kosten des Staates sehr schnell sehr reich zu werden. Anspielungen auf Immobilienblasen und die jüngsten amerikanischen Bankenskandale sind unübersehbar. Im übrigen funktioniert die Wirtschaft im dritten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht viel anders als heute: Die Praktiker rechnen mit Benchmarking-Modellen (soundsoviele Arbeiter, soundsoviele Schwellen, soundsoviele Schienen, soundsoviele Meilen pro Tag), die Anzugträger mit den goldenen Uhrkettchen jonglieren lieber mit weit einträglicheren finanziellen Luftnummern. Der Titel „Hell on Wheels“ bezieht sich auf den Namen der mobilen Stadt, die mit dem Vordringen des Schienenstrangs immer wieder ihren Standort verlegt. Hell on Wheels ist also – analog zu Lucky Lukes Nothing Gulch – der Mikrokosmos, in dem die moralischen Fragestellungen verhandelt werden. Es gibt einen Saloon, ein Hotel, eine Kirche und natürlich ein Bordell. In Hell on Wheels regiert der anfangs gierige, korrupte und skrupellose Geschäftsmann Thomas Doc Durant, den Colm Meaney (einst leicht mürrischer, aber untadliger Transporter-Chief auf der Enterprise) mit viel Spaß als wahrhaft verschlagenen Deckskerl spielt, der allerdings mitunter ungeahnt weiche Züge offenbart. Sein Gegenspieler ist der ehemalige Südstaatensoldat Cullen Bohannon, dessen Frau während des Bürgerkriegs ermordet wurde. Er ist auf einer Art privatem Rachefeldzug, als er zur Kolonne der Eisenbahnbauer stößt.
Den Cullen Bohannon spielt der charismatische Anson Mount, der bislang vor allem durch eher kleine Serien-Gastrollen in Erscheinung getreten ist. In seiner Figur fokussiert sich der Anspruch der Produzenten: Hell on Wheels greift Aspekte der frühen amerikanischen Geschichte auf, die im Western bislang nichts zu suchen hatten. Die Rassenproblematik, zum Beispiel. Die Sklaverei ist zwar abgeschafft, aber es wird ziemlich genau noch 100 Jahre dauern, bis 1964 unter Präsident Lyndon B. Johnson die Gleichberechtigung der Rassen in den USA gesetzlich verankert wird. Bohannon ist Südstaatler. Ihm fällt es zunächst schwer, den ehemaligen Sklaven Elam Ferguson, gespielt vom Rapper Common, als Ebenbürtigen zu akzeptieren. Dramaturgisch gesehen ist Elam nicht viel mehr als ein Sidekick, aber als Person billigt ihm das Drehbuch weitaus mehr Emanzipation zu als den meisten seiner Leidensgenossen.
Es ergibt sich eine eigenartige Mischung: Einerseits die Scharmützel und Abenteuer, die Cullen und Elam gemeinsam bestehen und die sie als Menschen zusammenschweißen, andererseits die letztlich uneingelöste Utopie einer wahren Partnerschaft. Die dicken Wolken aus Pathos, die Bohannon permanent umwehen (bis hin zur Pose als gekreuzigter Schmerzensmann), verdecken immer wieder das vorgebliche Anliegen, den Wilden Westen aus neuer Perspektive neu zu entdecken.
Hell on Wheels ist und bleibt eben doch (nur) ein Western, der sich nicht weit vom tradierten Repertoire weg wagt. Die Auseinandersetzungen mit der Kavallerie, die den Eisenbahnbau unverhohlen als Vorwand zu imperialistischer Landnahme nutzt. Die Verständigungsversuche mit den Indianern, die – natürlich – eigene moralische Konzepte verfolgen. Vor allem aber die Gemeinheiten, die die Eisenbahnbauer einander fortwährend antun – all das wirkt letztlich nur wie eine weitere Mahnung, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Und das ist wirklich nicht neu.