Die Wegstrecke war weit, die Igor Levit mit den Zuhörern seines Klavierrezitals ging. Von Beethoven über Rzewski zu Bach gingen die musikalischen Wegmarken. Die Begeisterung beim Kissinger-Sommer-Konzert im ausverkauften Rossini-Saal war groß, der Pianist wird als einer der ganz Großen gefeiert – und das zu Recht. Sein pianistisches Können ist phänomenal, Virtuosität und Präzision sind sein Handwerkszeug. Das Besondere aber ist seine Fähigkeit, Geschichten zu erzählen. „Wenn ich spiele, sehe ich immer Menschen“, sagte er einmal. Von diesen Menschen erzählt er.
Mit Beethovens zweisätziger Sonate F-Dur op. 54 begann Levit seine musikalische Reise. Er zeigte von Beginn an seine frappierende Geläufigkeit und Flexibilität. Von einem fast unscheinbaren Herantasten ausgehend, inszenierte er abrupte Stimmungs- und dynamische Wechsel. Leise und laut, zart und wuchtig – der Notentext entfaltete seinen dramatischen Gehalt.
In gleicher Weise verfuhr der deutsch-russische Pianist mit Frederic Rzewskis „Dreams II“. Der amerikanische Komponist hat die Sammlung „Dreams“ eigens für Igor Levit geschrieben. Die einzelnen Sätze des Zyklus orientieren sich an dem gleichnamigen Film von Akira Kurosawa. Auch ohne den Film zu kennen, der auf Träumen des Regisseurs basiert, ist die Komposition sprechend. Denn Rzewski hat die Bildsprache in Musik für Klavier übersetzt. Beim Spielen geschah dann die wundersame Verwandlung in den Köpfen der Zuhörer. Eigene Träume entstanden, ausgelöst durch die Musik. Levit war mit dem Flügel das Medium. Er ließ in „Bells“ ferne Glocken klingen und in „Fireflies“ Glühwürmchen in Schwärmen herumschwirren. In „Ruins“ entwarf er zerstörte Landschaften und improvisierte in „Wake up“ über ein schlichtes Kinderlied.
Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen BWV 988 entwickelten unter Igor Levits Händen ein Eigenleben, sie verselbstständigten sich. Die einzelnen Variationen wurden zu Teilen eines großen Ganzen. Ausgehend von der sehr langsam genommenen Aria machte sich Levit auf den Weg ohne ein bestimmtes Ziel. Ohne zu hetzen, reihten sich rasend schnelle Triller aneinander, in furiosen Passagen wurden neue Linien hörbar. Ein Sog entstand, dem sich zu entziehen unmöglich war.