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BERLIN
Hitlers „Mein Kampf“: Serdar Somuncu über den Adolf in uns allen
„Mein Kampf“: Das viele Jahre verbotene Werk kehrt in einer kritischen Ausgabe offiziell auf den Buchmarkt zurück. Der türkischstämmige deutsche Komiker Serdar Somuncu las fast 1500 Mal aus Hitlers Kampfschrift.
Olaf Neumann
 |  aktualisiert: 03.12.2019 08:53 Uhr

Der deutsche Komiker Serdar Somuncu hat fast 1500 Mal aus Hitlers „Mein Kampf“ und später auch aus Goebbels' Sportpalastrede gelesen – zum Teil mit kugelsicherer Weste. Mehr als 250 000 Zuschauer kamen zu den „Nachlass eines Massenmörders“ betitelten Lesungen. In seinem Buch „Der Adolf in mir“ untersucht er totalitäre Strukturen in der Gegenwart. Heute, 8. Januar, erscheint eine kritisch edierte Ausgabe von Hitlers Kampfschrift mit zahlreichen wissenschaftlichen Anmerkungen. Im Interview spricht Somuncu, der 1968 in Istanbul geboren wurde, über Hass, Pegida – und den Adolf ins uns allen.

Frage: Haben Sie nach dem Lesen von „Mein Kampf“ die Ursprünge des Übels begriffen?

Serdar Somuncu: Ich bin immer noch dabei, aber ich habe einen großen Teil begriffen. Meine Aufmerksamkeit bleibt auf jeden Fall geschärft. Anhand von „Mein Kampf“ kann man die Ursache und die Auswirkungen sehr gut beschreiben. Was Hitler im Jahr 1923 geschrieben hat, ist ja 1933 auf grausame Weise verwirklicht worden. Bis zum heutigen Tage gibt es Menschen, die im Sinne dieser Ideologie agieren. Damit meine ich nicht nur den Nationalsozialismus, sondern auch faschistoide Systeme oder totalitäre Strukturen, denen wir uns in der Gegenwart unterwerfen.

In meinem Buch nenne ich dafür konkrete Beispiele, die man zum Teil gar nicht erwartet: meine Erlebnisse im Hip-Hop und in der Musik- und Medienwelt. Leute, die nicht systemkonform sind, werden dort sanktioniert. All das kann man sehr gut herleiten, wenn man die Ursprünge kennt.

„Mein Kampf“ erscheint jetzt in einer kritisch edierten Ausgabe. Sollte sich dann jeder Deutsche mit diesem Buch auseinandersetzen – oder birgt das Gefahren?

Somuncu: Dieses Buch war bisher schon leicht zu kriegen, deswegen sollte man dazu stehen. Man kann es im Internet bestellen oder in Antiquariaten finden. Wir unterstellen insbesondere jungen Leuten, dass sie noch anfällig sein könnten für die Ideen eines Buches aus dem Jahr 1923. Wenn jemand immer noch anfällig für die Aussagen dieses Buches ist, dann haben viel gefährlichere Dinge ihn vorher schon überzeugt: zum Beispiel die „Nationalzeitung“ oder die Sprüche, die die Pegida klopft. Deswegen ist für mich klar: „Mein Kampf“ muss offiziell auf dem Markt sein.

Wurde „Mein Kampf“ im „Dritten Reich“ breitflächig gelesen?

Somuncu: Es wurde nach dem Zweiten Weltkrieg lange behauptet, dass nur die wenigsten es gelesen hätten, das war aber ein Alibi für die Deutschen, die sagen wollten, sie hätten von all dem nichts gewusst. In der Tat spricht aber die Gesamtauflage von über zehn Millionen Exemplaren im Jahr 1945 von einem regen Interesse an dem Buch. Ab 1935 gab es auf Erlass Hermann Görings die Anweisung, dass es bei jeder erdenklichen Gelegenheit verschenkt werden sollte. Ich weiß aus Berichten von Zeitzeugen, dass es zu Feiertagen etwas Besonderes war, daraus vorzulesen. Heute schätzt man, dass weitaus mehr Menschen es gelesen haben, als anfangs behauptet wurde.

Wie haben Sie das alles herausgefunden?

Somuncu: Das habe ich herausgefunden, weil ich mich mit namhaften Historikern wie etwa dem Salzburger Othmar Plöckinger unterhalten habe. Hitler hat „Mein Kampf“ ja als Rede konzipiert, demzufolge sind darin noch viele Elemente enthalten, die die politischen Feinde benutzt haben, um Hitler zu verunglimpfen als Autor, der rhetorisch minderbemittelt war. „Mein Kampf“ ist nicht nur ein Propaganda-Medium der Nazis gewesen, sondern wurde auch von den Alliierten zur Propaganda gegen die Nazis genutzt.

Welchen Umgang wünschen Sie sich mit der historischen Person Hitler?

Somuncu: Einfach gesagt: einen souveränen! Wir könnten in Deutschland klüger sein, wenn wir uns bewusst sind, dass das, was aus der Vergangenheit übrig geblieben ist, nicht nur eine Belastung, sondern auch eine Verantwortung bedeuten kann. Gerade in dieser Zeit, in der rechtsextreme Tendenzen überall in Europa wieder aufkeimen, könnten wir in Deutschland eine Sonderfunktion einnehmen. Denn wir wissen, wo dieser Weg entstanden ist und wohin er führt. Damit kann man angstfreier umgehen, ohne gleich verdächtig zu sein, dieser Ideologie hinterherzutrauern oder ihr nachzueifern.

Wie entsteht Faschismus inmitten unserer liberalen Gesellschaft?

Somuncu: Faschismus ist ein Konglomerat aus unterschiedlichen Empfindungen. Er hat etwas mit Minderwertigkeitsgefühlen und Größenwahn und mit Angst vor Unterwanderung zu tun. Diese Elemente nutzt Pegida, wenn sie sagt: „Wir sind das Volk“ – und nicht ihr. Wobei sie eher völkisch agiert. Diese Elemente machen die Funktionstüchtigkeit der faschistischen Ideologie aus. An sich ist Faschismus erst einmal nichts anderes als das, was in Italien unter Mussolini entstanden ist. Aber im Prinzip lässt er sich auch auf die Gegenwart anwenden.

In welcher Form?

Somuncu: Faschismus ist auch, wenn ein Fernsehredakteur sagt: „Ich bestimme, was der Künstler zu sagen hat.“ Oder wenn ein Hip-Hopper rappt: „Ihr seid alle scheiße, ich bin gut!“ Es gibt sehr viele unterschiedliche Formen von Faschismus. Das zu erklären und zu zeigen, wie es auch heute noch anwendungsfähig ist, war mir sehr wichtig. Zugleich ist es für mich sehr erschreckend geblieben.

Wie können wir den Adolf in uns allen loswerden und eine innere Erneuerung unserer Gesellschaft vorantreiben?

Somuncu: Indem wir ihn als Teil unserer selbst akzeptieren. Es wird noch lange dauern, bis es ein Deutschland ohne Hitler gibt – und das ist gut so. Denn Hitler ist eine ständige Mahnung für das, was sein konnte, und hoffentlich auch für das, was wir als System in diesem Land haben wollen: ein friedliches und tolerantes Miteinander unterschiedlicher Menschen, aber auch eine Regel für das Zusammenleben. Man muss den Konsens aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft heraus definieren – vielleicht im Streit, aber nicht im Schreien.

Sie traten auch vor Nazis auf. Wie reagierten die?

Somuncu: Sie haben ganz offen erklärt, dass sie meine Lesung aus „Mein Kampf“ stören wollen. Meistens haben sie vor dem Veranstaltungsort Präsenz gezeigt. Oft habe ich mit dem Veranstalter darüber verhandelt, dass die Nazis in meiner Vorstellung sitzen dürfen. Anfangs reagierten sie konsterniert, und später waren sie fast sogar schon offen für einen Dialog. Denn sie hatten gemerkt, dass ich jenseits von meiner klaren Position keine einseitige Anklage betrieben habe. Mir ging es immer auch um den Dialog. Ich wollte verstehen, wie andere Menschen denken, um sie in ihrer Argumentation widerlegen zu können.

Kann man mit Nazis wirklich in Dialog treten?

Somuncu: Man muss mit Nazis reden. Was soll man sonst machen? Verschweigen? Verdrängen? Verbieten? Nazis werden dadurch nicht weniger, dass man sie ignoriert.

Aber Sie standen damals auch unter Polizeischutz. Haben Sie heute keine Angst mehr?

Somuncu: Ich treffe Vorsichtsmaßnahmen, aber keine Angst der Welt hält mich davon ab, meine Kunst zu machen. Die dunkle Seite dieser Geschichte ist: Auch heute noch müssen wir um unser Leben fürchten, wenn wir eine Meinung vertreten, die nicht konform ist. Das klingt vielleicht nach Pegida, aber wir dürfen diesen Satz nicht denjenigen überlassen, die in Wirklichkeit gegen unsere aufgeschlossene Gesellschaft sind.

Warum ist Hass gesellschaftsfähig geworden?

Somuncu: Das hat sehr viel mit dem Internet zu tun. Dadurch, dass Menschen sich dort anonym austauschen können, ist die Hemmschwelle gesunken. Wenn Sie heute Abend in Unterhose vor dem Rechner sitzen und drei Bier intus haben, dann schreiben Sie viel schneller mal auf Facebook „Halt die Schnauze, du Arschloch!“, als wenn Ihnen drei Leute im Anzug gegenüber sitzen.

Der Hass wird jetzt sogar auf die Straße getragen.

Somuncu: Das ist eine immanente Katapultwirkung. Durch das Internet hat die Meinung des Einzelnen eine Bedeutung bekommen. Was zu Gruppierungen wie der Pegiga geführt hat, die meinen, die Stimmung der Allgemeinheit zu vertreten. Da muss man argumentativ drauf reagieren. Die Pegida-Leute sind nicht das Volk, sie sind ein Teil davon. Ich vermute, dass es nicht dieselben Leute sind, die damals bei der Auflösung der DDR an vorderster Front standen, sondern eher parteikonforme Leute, die sich jetzt den Anstrich des Revolutionären geben wollen.

Ist dieser Hass systemgefährdend?

Somuncu: Er kann tatsächlich dazu führen, dass die Gesellschaft sich spaltet. Am Beispiel Köln sehen wir, dass nicht wenige dazu bereit sind, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Gleichzeitig steht der große Teil der Bevölkerung in der Verantwortung, für das zu kämpfen, was wir in den letzten 20 Jahren geschaffen haben – ein Land, in dem jeder leben kann, egal, woran er glaubt und woher er kommt. Sofern er sich an die Regeln dieses Landes hält. Ich glaube aber, dass der Anteil derer, die bereit sind, rechtsextreme Parteien zu wählen, viel größer ist, als sich an den Wahlergebnissen ablesen lässt.

Ich schätze ihn auf 20 bis 30 Prozent. Das hat etwas damit zu tun, dass viele die Angst haben, von Fremden unterwandert zu werden. Die Volksparteien müssen diesen Menschen ihre Angst nehmen und ihnen sagen, dass wir heute in einer vielfältigen, multikulturellen Welt leben. Und das geht auch in Frieden und Freiheit.

 
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