Das Phänomen kennt man vor allem von Soaps: Eine schlechte Nachricht jagt die andere, ein Schicksalsschlag den anderen. Eigentlich furchtbar deprimierend, und doch schaltet man immer wieder ein. Nun ist „Emergency Room“ alles andere als eine Soap. E.R. ist in der langen Geschichte der Krankenhausserien die erste, die so drastisch, so ehrlich, so schonungslos versucht, sich der Realität zu nähern – der medizinischen und vor allem der menschlichen Realität. Der deutsche Untertitel „Helden im OP“ ist deshalb ebenso albern wie irreführend, denn so kompetent und oft auch tatsächlich heldenhaft die Helden der Serie agieren, so sind sie doch keineswegs die Halbgötter in Weiß, wie wir sie aus dem Glottertal kennen.
Der Realität von E.R. jedenfalls haben sich allwöchentlich Millionen Fernsehzuschauer gestellt – die Serie nach einem Drehbuch des Bestsellerautors Michael Crichton und unterstützt von – natürlich – Steven Spielberg war ungeheuer erfolgreich, sie brachte es von 1994 bis 2009 auf 331 Folgen in 15 Staffeln.
Die Notaufnahme in einem fiktiven Lehrkrankenhaus in Chicago. In einem Land, in dem Millionen Menschen keinerlei Krankenversicherung haben, sind die Notaufnahmen die einzige Möglichkeit für kostenlose Grundversorgung. Aber es kommen nicht nur die, die sonst niemanden haben, die angeschossenen Drogendealer oder die Dementen, die man auf der Straße aufgelesen hat. Da gibt es auch das Millionärssöhnchen, das im Rausch ein Kind totgefahren und sich dabei das Köpfchen gestoßen hat. Oder die hübsche junge Frau mit der eigenartigen sexuellen Vorliebe fürs Untersuchtwerden.
Immer also sind Ärzte und Schwestern auch Sozialarbeiter, immer ist die Station überlastet, die Menschen sind es sowieso. Und die Regeln sind gnadenlos. Im Grunde herrschen drinnen die gleichen wie draußen: Wer nicht funktioniert, der wird vom System in kürzester Zeit ausgeworfen, egal, welche Verdienste er sich möglicherweise zuvor erworben hat.
Die erste Staffel beginnt – bildlich gesprochen – mit einem Erdbeben und steigert sich dann von Folge zu Folge. Wir lernen ein heterogenes Team kennen, das dennoch äußerst effektiv zusammenarbeitet. Die Arbeitsplatzbeschreibung für die Ärzte ist einfach: Rackern bis zum Umfallen, nebenher aber Fortbildungen besuchen, publizieren, vorankommen. Was auch immer vorankommen bedeutet. Denn wer nicht für die Notaufnahme geschaffen ist, der sieht zu, dass er möglichst schnell auf Station oder – besser noch – in einer schicken Privatpraxis unterkommt.
Die, die bleiben, das sind die E.R.-Junkies, wie etwa der leitende Arzt Mark Greene, der letztlich seine Familie opfert, weil er es nicht fertigbringt, nicht zu helfen. Anthony Edwards spielt ihn als sanften, unprätentiösen, grundsympathischen Kerl, der so stark in seinen eigenen ethischen Grundsätzen verwurzelt ist, dass jeglicher Genuss im Grunde einen egoistischen Verstoß bedeutet.
Schlüssigerweise ist sein engster Freund im Job der labile Kinderarzt Doug Ross. Mit dieser Rolle hat George Clooney den Durchbruch geschafft: gutaussehend, charmant, einfühlsam, aber eben emotional ziemlich unzuverlässig. Frauen bekommen heute noch träumerische Augen, wenn sie sich an die ersten Staffeln von E.R. erinnern, Männer mit einer gewissen Bereitschaft zum Selbstbetrug finden es immerhin tröstlich, dass ein Mann in späteren Jahren so viel besser aussehen kann als in seiner Jugend. Denn eines ist doch wohl beiden Geschlechtern klar: Der junge Schönling Doug Ross ist bei weitem nicht so sexy wie der reife Gentleman-Gangster Danny Ocean, den Clooney erstmals 2001 gespielt hat.
„Emergency Room“ ist – wie naturgemäß alle Serien – ein geschlossenes System. Aber dieses System ist eine Hölle von beinahe Sartrescher Unerbittlichkeit, eine geschlossene Gesellschaft, aus der niemand entrinnen kann, ohne sich schuldig zu machen. Denn Mark, Doug, der Chirurg Peter Benton, die Ärztin Susan Lewis, der Anfänger John Carter oder die Chefschwester Carol sind Gefangene in einem Käfig, hinter dessen Stäben keine Welt mehr ist. Die Welt findet in der Notaufnahme statt. Ärzte und Schwestern sind Opfer einer Erpressung, einer Geiselnahme durch ihre eigene Anteilnahme, wenn man so will: Wer geht, lässt die Welt im Stich. Die Anwesenheit an keinem anderen denkbaren Ort kann jemals diese Relevanz, diese Dringlichkeit haben.
Die Macher von „Emergency Room“ haben für diese Hölle unglaublich packende künstlerische Mittel entwickelt: Der Betrieb in der Notaufnahme ist eine Art dramaturgisches Glasperlenspiel, ein atemberaubend schnell immer neu entstehendes Geflecht an Handlungs- und Schicksalssträngen, die die Akteure in immer neue Dilemmas stürzen. Die seltenen Ruhephasen sind trügerisch, sie reichen kaum je aus, sich für den nächsten emotionalen Sturm zu wappnen. Die Actionszenen sind blutige Choreografien, in denen ein reibungslos harmonierendes Ensemble aus Helfern die Körper der Patienten in nahezu schwerelose Objekte professioneller Zuwendung verwandelt. Dieser Choreografie wird alles andere untergeordnet. Sobald der Sanka vorfährt, mutieren Individuen schlagartig zu Rädern eines Uhrwerks, durch dessen Inneres die Kamera jagt wie ein ruhe- und körperloser, vor allem aber mitleidloser Voyeur.
Nein, „Emergency Room“ ist keine Soap, sondern das genaue Gegenteil davon.