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Meiningen
Hauptmanns "Ratten" in Meiningen: Mikrokosmos der Katastrophen
Maria Viktoria Linke inszeniert in Meiningen Gerhart Hauptmanns Drama „Die Ratten“. Und führt die Tragik der Gestalten durch Überzeichnung immer wieder ad absurdum.
In Gerhart Hauptmanns Drama 'Die Ratten' wird ein Baby zum tragischen Zankapfel. Im Bild Anja Lenßen als Henriette.
Foto: Kai Wido Meyer | In Gerhart Hauptmanns Drama "Die Ratten" wird ein Baby zum tragischen Zankapfel. Im Bild Anja Lenßen als Henriette.
Siggi Seuß
 |  aktualisiert: 27.04.2023 07:55 Uhr

Alles beginnt so überwältigend, dass wir mit offenem Mund staunen. Ein Kind tritt durch die Tür des Eisernen Vorhangs des Meininger Theaters. Sekunden später tut sich die Hölle vor uns auf: eine Berliner Mietskaserne um 1910. Verrußt. Verraucht. Versifft. Das Elend zum Greifen nah. Kinder, die auf der schwindelerregend hohen Haustreppe spielen. Frauen, die am Boden herumlungern. „Allens von Unjeziefer, von Ratten und Mäuse zerfressen!“, wird ein Bewohner später sagen.

Offensichtlich befinden wir uns in Maria Viktoria Linkes Inszenierung von Gerhart Hauptmanns „Die Ratten“ in einer mit großer spielerischer Lust ins Bild gesetzten Interpretation des spätnaturalistischen Stücks. Bühnenbildner Jan Freese und Kostümbildnerin Daria Kornysheva präsentieren die Kulisse wie ein riesiges offenes Puppenhaus. Hauptmanns Werk lebt vom Zusammenprallen der Milieus, von Asozialen, Arbeitern, Kleinbürgern, Künstlern. Die auf einem wahren Vorfall beruhende Kindesunterschiebung der Putzfrau Henriette John ist nur ein besonders eindringliches Mittel, die soziale Katastrophen in diesem Mikrokosmos auszustellen.

Die Menschen ähneln eher Figuren aus einem Undergroundcomic als realistischen Geschöpfen

Die Regisseurin überhöht die Tragikomik der Handlung allerdings ins Absurde. Mitten in der Szene steht ein neuzeitlicher Lift, dessen Tür sich ins Nichts öffnet. Aus der man sich winden muss, um festen Boden unter den Füßen zu ertasten. Und die Menschen ähneln – ausgenommen Maurerpolier John (Johann Jürgens) und seine Frau Henriette (Anja Lenßen) – eher Figuren aus einem Undergroundcomic als realistischen Geschöpfen. In einem Augenblick sprechen die Bewohner in breitestem Berlinerisch oder in erlesenem Hochdeutsch. Im nächsten Moment agieren sie als Karikaturen ihrer selbst.

Aufgeblasen: der abgehalfterte Theaterdirektor (Hans-Joachim Rodewald), treudeutscher Anhänger der Weimarer Klassik. Völlig aus der Form geraten: seine Gattin (Ulrike Walther). Wie eine Marionette: die Tochter (Nora Hickler). Hochneurotisch aber rebellisch: Schauspielschüler Spitta (Björn Boresch). Vom Wahnsinn getrieben: Frau Johns gewalttätiger Bruder (Yannick Fischer). Geheimnisvoll androgyn: der Hausmeister (Renatus Scheibe). Lebensmüde: das schwangere Dienstmädchen Pauline (Mira Elisa Goeres). Ein menschliches Wrack: die vom Morphium gezeichnete Nachbarin Knobbe (Evelyn Fuchs).

Spätestens wenn Kompositeur Johannes Mittl das Geschehen live aus dem Orchestergraben elektronisch untermalt, steht fest: Die Regisseurin hebt den Naturalismus aus den Angeln, um – ja, was wohl? Um Hauptmann aus neuen Blickwinkeln zu betrachten? Oder um sich selbst und dem Publikum zu beweisen, wie souverän man kraft eigener Fantasie mit dem Stoff jonglieren kann?

Realistische Szenen wirken so theatralisch überhöht, dass sie an Glaubwürdigkeit verlieren

Die Inszenierung scheint weit mehr eine ins eigene fantastische Assoziieren verliebte Interpretation als eine Reminiszenz an Hauptmanns Wirklichkeiten. Die Ernsthaftigkeit der tragischen Gestalten wird durch Überzeichnung immer wieder ad absurdum geführt. Die Kehrseite: erschütternd realistische Szenen wirken so theatralisch überhöht, dass sie an Glaubwürdigkeit verlieren.

Die Theatermacher wissen die Reize der Geschöpfe als Spielfiguren zu nutzen und zeigen zur allgemeinen Erheiterung, welch mimische Talente in den Darstellern stecken. Zu bezweifeln ist allerdings, ob das dem Wesen der Menschen im Sinne Hauptmanns nahekommt. Die neben der sozialen Tragik zweite bedeutende Säule des Werks – der komödiantische Konflikt zwischen klassischem Bühnenpathos (Theaterdirektor) und gefordertem Bühnenrealismus (Spitta) – verschwindet hinter spielerischen Extravaganzen.

„Allens kann jeden Ojenblick bis in Keller durchbrechen“, kommentiert Maurerpolier John das Geschehen. „Auch die Inszenierung“, fügt der Kritiker an. Eine Seelenverwandtschaft zu Hauptmanns Anliegen erschließt sich ihm bei aller Achtung für die gesehenen Kunstfertigkeiten nicht.

Nächste Vorstellungen: 23. Februar, 19.30 Uhr; 3. März, 19 Uhr; 23. März, 19.30 Uhr. Kartentelefon: (03693) 451 222. www.meininger-staatstheater.de

 
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