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WÜRZBURG
Hartmut Haenchen: Warum man die Dinge hinterfragen sollte
Hartmut Haenchen: Der renommierte Dirigent kommt zum Mozartfest nach Würzburg. Ein Gespräch über Werktreue, Vorteile des Alters, Pegida und die Notwendigkeit musikalischer Bildung.
Haenchen vor dem Bayreuther Festspielhaus
| Haenchen vor dem Bayreuther Festspielhaus
Ralph Heringlehner
Ralph Heringlehner
 |  aktualisiert: 16.12.2021 11:34 Uhr

Die Fachzeitschrift „Opernwelt“ kürte Hartmut Haenchen 2017 zum „Dirigenten des Jahres“. Der gebürtige Dresdner hat sich mit seiner akribischem Art, mit Partituren umzugehen, international Renommee erworben. Haenchen, von 1953 bis 1958 Mitglied des berühmten Dresdner Kreuzchors, führte bereits mit 15 Jahren als Kantor Konzerte auf. Er war unter anderem Chefdirigent der Niederländischen Philharmonie und Generalmusikdirektor der Oper in Amsterdam. Von 2003 bis 2008 leitete er die Musikfestspiele Dresden. Haenchen – 1985 zum Professor ernannt – ist Gastdirigent mehrerer großer Opernhäuser und hat mehr als 130 Tonträger eingespielt. Er ist auch Autor mehrerer Bücher. An diesem Mittwoch, 21. März, feiert Hartmut Haenchen seinen 75. Geburtstag. Am 25. und 26. Mai leitet er die Eröffnungskonzerte beim Würzburger Mozartfest.

Frage: Thema des diesjährigen Mozartfests ist das Zeitalter der Aufklärung. Wie wichtig ist für Sie als Dirigent der geistige Hintergrund eines Komponisten?

Hartmut Haenchen: Wir sollten uns generell auf die Aufklärung besinnen, also Dinge infrage stellen und nach Antworten suchen. Die Interpretation von Musik ist genauso zu sehen: Man sollte das, was man kennt oder gelernt hat, infrage stellen, daraus Schlussfolgerungen ziehen und alles von vorne durchdenken.

Prinzipiell ist es aber doch nicht möglich mit Musik ohne Text Ideologien, Weltanschauungen, Philosophien zu verbreiten.

Haenchen: Es gibt schon Beispiele, wo Ideologien oder Revolutionen in textloser Musik provoziert werden können. Ich denke zum Beispiel an Schostakowitsch. Da sind schon verborgene Botschaften, die die Menschen verstanden haben. Auf Mozart ist das nicht unbedingt anzuwenden, weil Mozart – im Gegensatz zu vielen anderen Komponisten – in der Lage war, auch in schwierigen Situationen seines Lebens Musik zu schreiben, in der sich seine Situation nicht widerspiegelt. Dennoch gibt es bei ihm Musiken, wo sich seine Einstellung zum Tod und zum Glauben zeigt. Die Musikgeschichte kennt auch bestimmte Symbole – etwa den Tritonus, der für den Teufel stehen kann.

So etwas kriegt man als Hörer wahrscheinlich gar nicht mit. Man sieht's nur in den Noten . . .

Haenchen: Das hängt natürlich auch mit der Frage zusammen: Wie gebildet sind unsere Hörer heute? Ich führe hier in Sachsen gerade eine Diskussion, weil man den Musikunterricht abschaffen will. Wenn wir das tun, geht Bildung verloren, die frühere Hörer-Generationen hatten. Die konnten dann auch solche Nuancen erkennen. Früher konnten auch viel mehr Menschen eine Partitur lesen. Als Interpreten können wir eigentlich nur versuchen, über die Emotionen diese Feinheiten zu vermitteln.

Sie haben Bücher zum Thema „Werktreue und Interpretation“ geschrieben. Woher weiß ich, was werkgetreu ist, was ein Komponist vor Jahrhunderten gewollt hat?

Haenchen: Man kann schon bestimmte Parameter festzurren, die Musikwissenschaft hat da viel geleistet. Mit Werktreue meine ich aber auch, dass man nicht nur den Notentext nimmt, wie er von irgendeinem Herausgeber gedruckt wurde, sondern – und da sind wir wieder bei der Aufklärung – hinterfragt, was der Komponist tatsächlich wollte. Da ist die Partitur alleine nicht ausschlaggebend. Zum Beispiel hören wir heute die Johannespassion in einer Fassung nach der Neuen Bachausgabe, in der alles, was Bach nachher in den Stimmen aufgeschrieben hat, fehlt. Das heißt: Wir spielen die Johannespassion eindeutig falsch. Das ist nachweisbar. Werktreue heißt für mich, dass wir als Minimum den letzten Stand dessen hernehmen, was uns der Komponist hinterlassen hat.

In diesem Sinne haben sie auch in Bayreuth gearbeitet.

Haenchen: Ja, das habe ich im letzten Jahr in Bayreuth zelebriert, wo ich die Originalstimmen der Uraufführung bekommen habe. Ich konnte Hunderte, wenn nicht Tausende, Abweichungen feststellen zwischen dem Material, das das Orchester seit 1902 spielt, und dem, was Wagner wollte und auch in das Spielmaterial übertragen hat. Das ist im Einzelnen für den Hörer nicht wahrnehmbar. Aber in der Menge, als Gesamtergebnis, ist es das ganz sicher.

In Bayreuth sind Sie ja vor zwei Jahren sehr kurzfristig eingesprungen. Sie hatten nur zwei Orchesterproben. Konnten Sie da überhaupt noch eigene Vorstellungen umsetzen?

Haenchen: Ich hatte auch noch die Bühnenproben. Zudem war meine Vorbedingung: Ich übernehme das „Parsifal“-Dirigat nur, wenn aus meinem Material gespielt wird. Damit habe ich den Musikern natürlich eine Menge von Informationen gegeben. Insofern konnte ich schon ein Gutteil umsetzen.

Ich nehme an, Sie müssen häufig mit wenigen Proben zurechtkommen. Wie intensiv können Sie mit der Camerata Salzburg, die Sie bei der Mozartfest-Eröffnung dirigieren, proben?

Haenchen: Die Camerata kriegt von mir komplett eingerichtetes Orchestermaterial, in dem alle meine Wünsche, die man in Schriftzeichen ausdrücken kann, stehen. Wir starten auf einer Basis, auf der alle denkbaren technischen Fragen geklärt sind. Dann haben wir fünf Proben. Das ist eine gute Zeit für so ein Programm.

Sind Sie nach Konzerten jemals zufrieden?

Haenchen: Wenn ich zufrieden wäre, müsste ich an diesem Punkt aufhören zu dirigieren. Natürlich kann ich mich über ein schönes Konzert freuen. Aber wenn ich den ersten Schritt vom Podium hinab mache, muss ich mich fragen: Was habe ich nicht geschafft? Was muss ich anders machen? Wie muss ich es anders machen?

Sie werden jetzt 75 Jahre alt. Ich könnte mir vorstellen, dass in Ihrem Beruf Alter durchaus ein Vorteil ist – mehr Lebenserfahrung, mehr Wissen . . .

Haenchen: Das sehe ich auch so. Ich habe neulich schon in einem Interview gesagt: Ab 70 bin ich ein guter Dirigent geworden (lacht leise). Und am Tag meines 75. Geburtstages dirigiere ich genau seit 60 Jahren – also ein Doppeljubiläum. Dirigieren ist ein Erfahrungsberuf. Man lernt nicht aus, weil man nicht auslernen will. Ich bin jemand, der immer neugierig ist und die Dinge gerne hinterfragt. Dann kommt auch keine Routine auf und es bleibt für mich spannend,

Hören Sie manchmal alte Aufnahmen von sich und denken: Das würde ich jetzt nicht mehr so machen?

Haenchen: Ja, das passiert manchmal, dann erschrecke ich und möcht's am liebsten verbieten – aber das geht nun mal nicht (lacht). Die Aufnahmen sind halt auf dem Markt. Ich bin gerade dabei, sämtliche Bruckner-Sinfonien noch einmal aufzunehmen. Es gibt von mir ja mehrere Bruckner-Aufnahmen. Ich bin jetzt schon weit entfernt von dem, was ich damals gemacht habe.

Sie leben in Dresden. Die Stadt hat zuletzt wegen Pegida negative Schlagzeilen gemacht.

Haenchen: Leider werde ich immer wieder darauf angesprochen. Mir tut das weh, ich kann's nicht anders sagen. Ich habe den Krieg noch am Ende miterlebt und bin in den Ruinen groß geworden. Diese Bewegung besteht ja nicht nur aus Sachsen, der Anteil derjenigen, die hierher reisen, ist sehr groß. Aber die Stadt wird eben als Bühne verwendet. Bestimmte Gruppierungen versuchen den 13. Februar, den Tag der Zerstörung Dresdens, für sich zu nutzen. Das schmerzt sehr. Ich kann etwas dagegen tun, indem ich mich in Projekten engagiere – zuletzt hatte ich ein „War and Peace“-Projekt – und versuche, Menschen musikalisch mitzuziehen und wach zu machen. Das ist das, was ich in meiner Funktion als Dirigent machen kann.

Womöglich bräuchten wir wieder ein Zeitalter der Aufklärung . . .

Haenchen: Ja. Und die Kunst kann da schon Einiges. Nicht alles, aber Einiges. Und man sollte auch an der Kultur nicht sparen. Denn was man heute in Kultur investiert, kann man eine Generation später bei den sozialen Ausgaben einsparen.

Mozartfest 2018

„Aufklärung“ ist das Motto, unter dem das diesjährige Würzburger Mozartfest (25. Mai bis 5. Juli) steht. Es gehe darum, zu zeigen, dass „Aufklärung mehr ist als eine längst vergangene Epoche“, heißt es in einer Pressemitteilung. „Artiste étoile“ ist das Schumann Quartett. Es wird in acht Konzerten unterschiedlicher Formate zu hören sein. Zentrum für die Klassik-Konzerte ist der Kaisersaal der Residenz.

Hartmut Haenchen leitet die Eröffnungskonzerte am 25. und 26. Mai im Kaisersaal. Zu hören sind die Camerata Salzburg, das Schumann Quartett und die Klarinettistin Annelien Van Wauwe. Auf dem Programm stehen von Mozart die Sinfonie „Il re pastore“ und die „Jupitersinfonie“ sowie das Kammerkonzert für Klarinette, Streichquartett und Streichorchester von Karl Amadeus Hartmann (1905 bis 1963).

Karten für das Mozartfest gibt es im Mozartfestbüro im Würzburger Rathaus, Tel. (09 31) 37 23 36 oder online:

www.mozartfest.de

„Man lernt nicht aus, weil man nicht auslernen will“: Dirigent Hartmut Haenchen.
Foto: Riccardo Musacchio, Marjolein van der Klaauw | „Man lernt nicht aus, weil man nicht auslernen will“: Dirigent Hartmut Haenchen.
 
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