zurück
Harald Martenstein: Die Ängste von Kolumnisten
Harald Martenstein: Warum er Ja zu Vorurteilen sagt und ab und zu seinen Wahnsinn durchschimmern lässt
Das Gespräch führte Annette Christine Hoch
 |  aktualisiert: 12.07.2013 18:43 Uhr

Harald Martenstein (59) ist einer der bekanntesten Kolumnisten in der deutschen Presselandschaft. Er schreibt für „Die Zeit“, den „Tagesspiegel“ und „Geo“, hinzukommen Radiokolumnen. Mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis (2004) und dem Theodor-Wolff-Preis (2012) erhielt Martenstein zwei der renommiertesten deutschen Journalistenpreise. Ein Gespräch über wunderbare Wut, Facebook, Twitter und Vorurteile.

FRage: Haben Sie sich heute schon bei Facebook eingeloggt?

Harald Martenstein: Ich habe keinen Facebook-Account. Ich twittere auch nicht.

Gehört das heute nicht dazu?

Martenstein: Ich glaube, ich habe einfach keine Zeit dafür. Ich habe das Ziel, in jeder Woche ein Buch zu lesen. Das schaffe ich nicht immer, aber wenn ich bei Facebook und Twitter aktiv werde, dann schaffe ich es garantiert nicht.

Wie sind generell Ihre Erfahrungen mit dem Netz?

Martenstein: Es ist schwer, da etwas Pauschales zu sagen. Einerseits merke ich, dass es durch das Internet eine gewisse „Enthemmung“ des Publikums gegeben hat – man bekommt im Netz neben vielen freundlichen Dingen oft auch Beschimpfungen zu hören, viel extremer als das bei Leserbriefen der Fall war. Das ist eine Senkung von Schwellen, was das Verhalten angeht. Auf der anderen Seite ist das Netz natürlich äußerst nützlich, sinnvoll und kann sicher auch Spaß machen.

Viele Printmedien und Verlage haben mit der Online-Konkurrenz zu kämpfen.

Martenstein: Die Zeitungen und Zeitschriften haben die Funktion als Nachrichtenüberbringer verloren. Diese Funktion war schon früher durch das Fernsehen stark bedroht, nun ist sie völlig weg. Das führt dazu, dass Unterhaltung und Hintergrund wichtiger werden – insofern hat auch der Boom des Kolumnistentums etwas damit zu tun.

Bereitet es Ihnen Sorge, dass Zeitungen an Relevanz einbüßen? Immerhin sind zwei Ihrer Arbeitgeber Zeitungen.

Martenstein: Ja, gewisse Ängste gibt es da schon. Wobei ich glaube, dass die Zeitungen nicht wirklich verschwinden werden. Meine private Theorie ist, dass es so ähnlich laufen wird wie im Einzelhandel, wo einerseits die Luxusläden und andererseits die billigen Läden, wie Aldi oder Lidl, bleiben. Für die mittelgroßen Filialen, die weder etwas Besonderes bieten noch billig sind, ist es schwierig geworden. Das heißt, hochwertigen Reportagejournalismus sehe ich nicht gefährdet. Ich glaube auch, dass die billigen Boulevardzeitungen trotz Auflagenschwund weiter existieren werden. Allerdings kann es für die mittelgroße Regionalzeitung auf Dauer schwierig werden.

Nun sind Sie so etwas wie der Luxusladen unter den Kolumnisten. Aber ist das ganze Kolumnistenthema nicht irgendwann durch?

Martenstein: Es kommt drauf an, wie die Kunstfigur funktioniert, die man für sich erfindet. Der Kollege Gremliza schreibt, glaube ich, nun seit 40 Jahren seine Kolumnen für „Konkret“ und wird offenbar immer noch gelesen. Da gibt es verschiedene Lebensphasen: Am Anfang ist man „The new Girl in Town“, und alle finden das interessant, weil es neu ist. Dann sackt es ab, weil der Reiz des Neuen sich verschleißt, und dann gewinnt man einfach durch lang andauernde Präsenz wieder ein gewisses Gewicht. Wenn jemand 30 oder 40 Jahre Talkmaster gewesen ist, hat er dadurch einen gewissen Denkmalstatus gewonnen. Man muss also, wenn der Reiz des Neuen verflogen ist, einfach nur so lange durchhalten, bis der Denkmalreiz einsetzt.

Wie sieht denn Ihre Kunstfigur Martenstein aus?

Martenstein: Ich erzähle ganz gerne, dass ich mir vor zehn Jahren, als ich anfing, einen älteren, übellaunigen Typen vorgestellt habe – leichter erregbar als ich –, der sich über alles Mögliche aufregt. Und dass ich das in Wirklichkeit gar nicht bin, weil ich viel ruhiger und gelassener bin. Im privaten Umfeld habe ich mir jetzt aber sagen lassen, dass das gar nicht wahr ist und dass ich in Wirklichkeit genau der Typ bin, der in den Kolumnen auftritt. Offensichtlich habe ich mich also geirrt. Ich bin gar keine Kunstfigur.

Hat diese Erkenntnis wehgetan?

Martenstein: Ja, ein bisschen schon. Ich war so stolz darauf, dass ich mir eine Figur ausgedacht hatte – und jetzt bin ich das doch selber. Das war ja dann gar keine Leistung!

Welche Zeitungen liegen auf Ihrem Schreibtisch?

Martenstein: Ich lese täglich „Tagesspiegel“, „Berliner Zeitung“, „Süddeutsche Zeitung“, „FAZ“ und „taz“. Lesen bedeutet dabei natürlich, dass ich mir das aussuche, was interessant für mich ist.

Was ist mit der „Bild“?

Martenstein: Die gucke ich mir hin und wieder an, aber nicht regelmäßig.

Und die „Bild“-Kolumne „Post von Wagner“? Auf Franz Josef Wagner haben Sie ja einmal so etwas wie eine Hymne geschrieben.

Martenstein: Ich lese Wagner nicht regelmäßig. In meinem Text habe ich ihn verteidigt, weil ich ihn in seiner Selbstentblößung schon mutig finde. Er hat keine Angst, sich lächerlich zu machen. Den Mut muss man erst mal haben! Das ist eine Qualität!

Muss man sich als Kolumnist bis zu einem gewissen Grad auch selbst entblößen?

Martenstein: Ich glaube, dass es beim Kolumnisten schon dazugehört, dass er nicht ständig den Besserwisser gibt, sondern hin und wieder auch seine Defizite, seinen Wahnsinn und seine Ängste durchschimmern lässt. Das hat ja jeder Mensch. Und da das Kolumnistentum eine persönliche Form des Schreibens ist, die im Bereich des Literarischen liegt, muss man manchmal bereit sein, sich vor die Wölfe zu werfen. Und das macht Wagner. Das heißt nun nicht, dass ich alles toll finde, was er schreibt – aber mir gefällt diese Haltung, sich zum Clown zu machen.

„Bild“ suggeriert häufig mit einem „Wir“, die Stimme des Lesers zu sein, auch wenn sich dahinter nur ein Redakteur oder Kolumnist verbirgt. Wie stehen Sie als Kolumnist zu diesem kollektiven „Wir“?

Martenstein: Ich kann nicht ausschließen, dass irgend so ein „Wir“ mal in einem meiner Texte aufgetaucht ist. Aber ich bin eher ein Anhänger des Ich, weil es ehrlicher und genauer ist. Dieses Wir vernebelt. Und oft gibt es dieses Wir gar nicht. Der Autor gehört ja zu einer bestimmten Gruppe, hat bestimmte Prägungen, durch sein Geschlecht, seine Generation, seinen Lebensweg. Ich habe keine Lust, so zu tun, als ob ich objektiv und von gar nichts geprägt wäre und als ob ich keine Vorurteile hätte. Zu sagen „ich habe keine Vorurteile“ ist ja auch eine Riesendummheit.

Warum?

Martenstein: Weil man ohne Vorurteile nicht leben kann. Sie helfen uns, unseren Alltag zu sortieren. Wenn man in jeder Situation neu überlegen müsste, also keine „Vor-Urteile“ hätte, dann würde man wahrscheinlich wahnsinnig werden. Deshalb sage ich Ja zu Vorurteilen. Gleichzeitig rate ich aber dazu, sie immer mal wieder zu überprüfen.

Um Vorurteile auszuräumen, bedarf es oftmals einer Fakten-Recherche. Wie genau und akribisch sind Sie beim Recherchieren?

Martenstein: Möglichst genau. Ich bin aber nie ein harter Recherchehund gewesen, das war als Journalist immer meine Schwäche. Als Lokaljournalist habe ich irgendwann kapiert, wie wichtig es ist, immer die Namen richtig zu schreiben – deshalb liege ich mit den Namen meistens auch ziemlich richtig. Aber ich habe immer viel mehr Spaß daran gehabt, mir eine Geschichte einfallen zu lassen, mir Formulierungen auszudenken, es gut klingen zu lassen, als irgendeinem Skandal hinterherzurecherchieren oder eine Aussage irgendeines berühmten Menschen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Das ist alles notwendig und wichtig und ein unverzichtbarer Bestandteil des Journalismus – aber nicht mein Ding.

„Sich eine Geschichte einfallen lassen“ – das klingt eher nach einem Schriftsteller.

Martenstein: So gesehen war ich vielleicht jemand, der einen literarischen Ehrgeiz hatte, aber nicht den Mut, sich in diese Schriftstellerexistenz hineinzuwagen – und dann bei der Zeitung gelandet ist. Und wenn man so ein verkappter Schriftsteller ist, der sich eigentlich nur nicht traut, dann wird man am Ende Kolumnist.

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Aldi Gruppe
Egon Erwin Kisch
Facebook
Hubland
Lidl
Twitter
Ängste
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen