
Der von sich selbst gnadenlos beeindruckte Moralist Alceste hält wieder einmal einen seiner berüchtigten Monologe über die wahre Liebe. Sein Gegenüber ist die von ihm begehrte, schöne und kluge Célimène. Der Mann tönt davon, ihr abseits der Niederungen menschlichen Treibens das Paradies auf Erden zu bieten, wenn sie ... blablabla. Und die Pfiffige antwortet in einem Satz, in dem so viel Wahrheit steckt, wie sie der eitle Fatzke nicht in hundert Sätzen auszudrücken imstande wäre: "Ich bin doch erst 20."
Das ist die Wirklichkeit – heute wie vor 350 Jahren bei Molière. Und das ist großes Theater: Meininger Premiere von "Der Menschenfeind" in einer Inszenierung von Sebastian Schug. Wissendes Gelächter im Publikum. Tanzen die Figuren auf der Bühne doch vor und auf unseren Nasen herum. Mit einem Sack voller Schabernack, verkleidet als Heutige und Vorgestrige (Kostüme: Juliane Götz), bewegen sie sich durch die Jahrhunderte.
Die Figuren irren durch das Tollhaus Leben
Das heißt, sie bewegen sich durch die Innereien eines Theaters und somit durch die Welt (Bühne: Jan Freese), durch halbfertige Kulissen, über Leitern, Treppen, Gerüstpodien, durch halbintime Räume, vorbei an der Besuchertoilette, an ionischen Säulen, Musikinstrumenten und Kunstpalmen. Notfalls kommen und gehen sie durch eine Hintertür, über der das Wörtchen "EXIST" notleuchtet. Und wenn es ihnen der dramaturgische Sinn gebietet, greifen sie zur Gitarre, hauen in die Tasten des Flügels, malträtieren das Schlagzeug und intonieren die "Vogelhochzeit" ebenso wie die "Infinity", die Unendlichkeit.

Die Figuren irren durch das Tollhaus Leben, sprechen in von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens wunderbar zeitgemäß übersetzten Reimen. Sie suchen Vergnügungen, finden sie, verlieren sie wieder, tratschen leidenschaftlich gern über abwesende Dritte. Begehren, Begierde, Himmel und Hölle, Dichtung, Wahrheit, Bildung, Einbildung – wer kann das in diesem Tohuwabohu schon unterscheiden?
Ja, natürlich der Moralist Alceste, der glaubt, über den Dingen zu stehen, der sich als Richter über all die menschlichen Makel erhebt. Und der gleichzeitig wie ein Hund leidet, weil er sich in dieses unfertige aber verdammt reizvolle Geschöpf verliebt hat. Doch Célimène spielt mit ihm, wie sie auch mit den anderen drei Verehrern und einer hochnäsigen Dame von Adel spielt, denen Evelyn Fuchs (Arsinoé), Renatus Scheibe (Oronte), Jan Wenglarz (Acaste) und Marcus Chiwaeze (Clitandre) die passende Tragikomik verleihen.
Diesem Kampf der Eitelkeiten verweigern sich nur zwei Personen
Mit jeder kostbaren Minute werden Alcestes Leiden größer und mit ihnen Stefan Willi Wangs diebische Freude an seiner Figur. Genauso leidenschaftlich wächst auch Pauline Gloger in ihre Rolle als Célimène. Sie muss auf subtile Weise allen Bedrängern standhalten, möchte aber gleichzeitig das Begehrtwerden genießen.

Diesem Kampf der Eitelkeiten verweigern sich nur zwei: Éliante und Philinte. Mit diplomatischem Geschick und treffsicherem Witz mimen Larissa Aimée Breidbach und Leo Goldberg das künftige Pärchen, das die Gratwanderung zwischen Anpassung und individueller Freiheit ohne Absturz bewältigt. Gerade diese beiden könnten uns heutigen Hin- und Hergerissenen so eine Art Leitfaden durch zunehmend zerklüftete Landschaften des Lebens in die Hand drücken. Gemessen am riesigen Jubel des Publikum, ist das dieser molièreschen Komödiantentruppe gelungen.
Weitere Termine im Großen Haus: 31. Mai, 1. und 24. Juni. Kartentelefon: (03693) 451 222. www.staatstheater-meiningen.de
