Potsdamer Straße 134 a. Diese Adresse in Berlin war für Künstlerinnen ein Lichtblick. Dort befand sich die „Sturm“-Galerie – einer der wenigen Orte, an denen sie ihre Werke ausstellen konnten. Frauen in der Kunst galten vor einem Jahrhundert als „ungesund männlich“. Man sprach ihnen Kreativität und Können ab und schloss sie bis zum Jahr 1919 vom Studium an den Kunstakademien aus.
Wenn die „Malweiber“ dennoch zum Pinsel griffen, Privatunterricht nahmen oder viel Geld für ihre Ausbildung in den sogenannten Damenakademien investierten, sei das Ergebnis lediglich eine billige Nachahmung, hieß es. Kunst war die Domäne der Männer. „Sehen Sie, Fräulein, es gibt zwei Arten von Malerinnen: Die einen möchten heiraten, und die anderen haben auch kein Talent“, spottete ein Karikaturist 1901 in der Satirezeitschrift „Simplicissimus“ unter einer Zeichnung über die damals gängigen Vorurteile.
Kochtöpfe statt Farbtöpfe: Dieses Ansinnen lag Herwarth Walden fern. Der 1878 unter dem Namen Georg Lewin in Berlin geborene Komponist und Kunstkritiker war ein Glücksfall für die Künstlerinnen. 1910 erschien erstmals „Der Sturm“, die „Wochenschrift für Kultur und die Künste“, zwei Jahre später gründete er unter dem gleichen Namen die Galerie. In rascher Folge gehörte zu seinem „Sturm“-Imperium noch eine Akademie, eine Bühne und Buchhandlung. Rasch wirbelte „Der Sturm“ die Kunstlandschaft durcheinander.
Den Namen „Sturm“ soll sich seine erste Ehefrau, die exzentrische Dichterin und Zeichnerin Else Lasker-Schüler, ausgedacht haben, ebenso das Pseudonym Herwarth Walden – in Anlehnung an das Buch „Walden oder Leben in den Wäldern“ des US-amerikanischen Schriftstellers Henry David Thoreau von 1854, der auf der Suche nach einem alternativen Lebensstil war. Else Lasker-Schüler gehörte selbstverständlich von Anfang an zu den Künstlerinnen, die in der Zeitschrift publizierten, deren Werke dort abgedruckt oder in der Galerie ausgestellt wurden. Auch Waldens zweite Ehefrau, die Schwedin Nell Roslund, war Künstlerin. Sie trug mit ihrem auch organisatorischen Talent entscheidend zum Erfolg des „Sturms“ bei.
Walden suchte nicht nur in seiner nächsten Umgebung, sondern europaweit nach der Kunst, die seiner Vision entsprach. Er wollte „das Neueste, Ungewöhnlichste und Schrägste“, sagt Ingrid Pfeiffer, Kuratorin der Ausstellung „STURM-Frauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910-1932“ in der Frankfurter Kunsthalle Schirn. Rund 30 Malerinnen, Grafikerinnen, Bildhauerinnen oder Kostümbildnerinnen bot der Freigeist eine Präsentationsmöglichkeit für ihre neuen Ideen und Kunststile wie Kubismus, Suprematismus, Konstruktivismus oder Futurismus. Walden vereinte alles unter „Expressionismus“. Er verstand den Namen „Sturm“ als Signal zum Aufbruch in die Kunst des 20. Jahrhunderts und als Versuch, die internationale Avantgarde zu vereinen, so Schirn-Direktor Max Hollein.
Viele der Künstlerinnen sind heute vergessen, ihre Werke verschollen, von manchen sind nicht mal mehr die Lebensdaten bekannt.
18 Sturm-Frauen jedoch können Besucher der Schirn nun kennenlernen – neben Else Lasker-Schüler und Nell Walden so bekannte Malerinnen wie Gabriele Münter von der Künstlergruppe „Der blaue Reiter“ oder Sonja Delaunay aus Paris. Auch die temperamentvolle Marianne von Werefkin aus Sankt Petersburg ist in der Schirn vertreten. Die Lebensgefährtin von Alexej von Jawlensky galt als „russischer Rembrandt“, in München gehörte sie zu den Wegbereiterinnen des Expressionismus. Dennoch entsagte sie ein Jahrzehnt der Malerei – um ihrem Mann keine Konkurrentin zu sein. Immer wieder gab es in der Beziehung Spannungen.
Jede Künstlerin erhält in der Schirn einen eigenen Raum. Die schwungvolle Architektur passt zum „Sturm“. Besucher werden wie auf einer vom Wind bewegten Welle getragen, und gelangen so zum Beispiel in das weit in die Zukunft gerichtete Werk von Alexandra Exter: zu ihren Figuren- beziehungsweise Kostümentwürfen für den russischen Science-fiction-Film „Aëlita“ aus dem Jahr 1924. Ihre Formensprache beeinflusste den drei Jahre später entstandenen Film „Metropolis“ von Fritz Lang. Eine Wiederentdeckung ist die Künstlerin Maria Uhden.
Ihre Holzschnitte erinnern verblüffend an die Werke von Keith Haring. Dramatisch wird es am Ende des Ausstellungswegs. Dort sind die lebensgroßen Ganzkörpermasken und Bewegungsstudien der exaltierten Lavinia Schulz zu sehen. Mit ihrem Mann Walter Holdt entwickelte sie ein ungewöhnliches expressionistisches Tanztheater.
Öffnungszeiten: Dienstag, Freitag bis Sonntag 10 bis 19 Uhr, mittwochs und donnerstags 10 bis 22 Uhr (bis 7. Februar). Internet: www.schirn.de