Wenige polarisieren, zündeln, provozieren wie er, selbst noch im hohen Alter – gerade wieder mit seinem neuen Lyrikband „Eintagfliegen“ (siehe graue Infobox unten). Aber wenige müssen auch so viel einstecken wie Grass, den Israel im April wegen des kritischen Gedichts „Was gesagt werden muß“ zur Persona non grata erklärte, zur unerwünschten Person.
Deutschland hat es Grass in jungen Jahren schwer gemacht, und Grass macht es Deutschland seitdem nicht leicht. Die Scham, als Kind und Heranwachsender den Nazis auf den Leim gegangen zu sein, ist für Grass eine lebenslange Last. Der Literaturexperte Hanjo Kesting meinte im September in Hamburg bei einer Lesung mit Grass, man müsse dessen literarisch-künstlerisch-politisches Gesamtkunstwerk als „lebenslange Bußübung“ betrachten.
Es bedurfte über 60 Jahre, bis Grass in seinem autobiografischen Meisterwerk „Beim Häuten der Zwiebel“ (2006) von sich aus – ohne dass ihn jemand gedrängt hätte – niederschrieb, dass er kurz vor Kriegsende bei der Waffen-SS war: mit 17 im Herbst 1944 einberufen, nach der Ausbildung in böhmischen Wäldern nur wenige Wochen vor der Kapitulation im Einsatz vor Berlin, verwundet, Kriegsgefangenschaft. Kaum einer hielt die NS-Verführung des Jugendlichen für ein Problem, wohl aber 60 Jahre Schweigen – eine deutsche Vergangenheitsbewältigung. Umso größer eigentlich der Mut für den späten Schritt, anerkannt hat das kaum jemand. Kritiker nannten ihn Heuchler, Moralapostel. Den Eliten des Landes hatte er zuvor jahrzehntelang immer wieder die Leviten gelesen. Ungezählt die Kiesingers und Filbingers, denen er eine unzureichende Aufarbeitung der NS-Zeit vorhielt. Seit seinem späten Eingeständnis sieht er sich mit dem Vorwurf konfrontiert, seine moralische Glaubwürdigkeit verspielt zu haben.
Nach Erscheinen des Israel-Gedichts im April wurde dem Dichter sogar Antisemitismus vorgehalten. In der erregten Debatte wurden (verworfene) Forderungen laut, Grass die Ehrenpräsidentschaft des PEN und sogar den Literaturnobelpreis abzuerkennen. Die Schwedische Akademie betonte, Grass habe den Nobelpreis ausschließlich für literarische Verdienste erhalten – „weil er in munterschwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet hat“, wie die Jury bei der Vergabe 1999 lobte.
Sein Selbstverständnis treibt Grass bis heute immer wieder an, gesellschaftspolitisch Stellung zu nehmen. Die Weimarer Republik, so ein häufig von ihm geäußerter Satz, sei nicht daran zugrunde gegangen, dass es zu wenig Demokraten gab, sondern zu wenige, die sich engagierten. Literatur wiederum könne den Menschen zwar nicht verbessern, aber – langfristig – dazu beitragen, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern.
Und so ergreift die Ein-Mann-Partei Grass immer wieder das Wort: In den 1950er bis 1970er Jahren gegen die seiner Meinung nach damals noch von Altnazis durchwirkte bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft. Oder gegen die katholische Kirche, aus der der ehemalige Messdiener wegen der Haltung zum Abtreibungsparagrafen austritt. Grass will mehr Demokratie und Aufbruch. Er setzt sich für verfolgte Autoren ein, für Minderheiten wie die Sinti und Roma, er wettert gegen Faschismus oder Vertriebenenverbände, die auf die Ostgebiete nicht verzichten wollten. Er liest gegen Atomenergie, publiziert bei der Deutschen Presse-Agentur 2003 einen Text gegen den von US-Präsident George W. Bush initiierten dritten Golfkrieg.
Die Wiedervereinigung 1990 kommt Grass zu schnell. Er sieht die Ostdeutschen über den Tisch gezogen, kritisiert, dass keine neue Verfassung erarbeitet wurde, wie das Grundgesetz es für den Fall der Einheit vorsieht. In seinem Roman „Ein weites Feld“ setzt er sich auch kritisch mit der Treuhand auseinander. Während der Roman im Ausland positiv besprochen wird, hagelt es in Deutschland Verrisse. Ein Herzensanliegen ist dem Kaschuben aus dem Danziger Vorort Langfuhr die Aussöhnung mit Polen. Mit seinem aus Ostpreußen stammenden Schriftsteller-Freund Siegfried Lenz („Deutschstunde“), der nach seiner Meinung als Bundespräsident geeignet gewesen wäre, begleitet Grass 1970 Willy Brandt (SPD) zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrages, wo der Kanzler mit seinem Kniefall vor dem Ehrenmal der Helden des Gettos in Warschau heftige Kontroversen in Deutschland auslöst – und viel Anerkennung im Ausland findet.
Seine politische Heimat ist Grass nach dem Zweiten Weltkrieg die Sozialdemokratie geworden. Reformen in kleinen Schritten, nicht der vermeintlich große Wurf einer Ideologie, lautet Grass' politische Überzeugung. Kein Schwarz-Weiß, die Grautöne sind ihm wichtig. Seit mehr als 40 Jahren engagiert sich Grass für die SPD in Wahlkämpfen, auch wenn er wegen der Asylrechtsänderung 1992 aus der Partei austrat.
Wie Thomas Mann (1875-1955) sei Grass zum Repräsentanten deutscher Literatur, Kultur, ja in gewisser Weise Deutschlands geworden, sagte der damalige Bundespräsident Horst Köhler bei einem Festakt zum 80. Geburtstag des Autors. Grass habe es sich immer schwer gemacht mit seinem Land, habe gehadert, war enttäuscht. Gerade im Ringen um Deutschland sieht Köhler Grass' Patriotismus. Im Ausland habe er oft erlebt, „wie wichtig und wie wertvoll“ Grass' künstlerisches Schaffen „für das Bild Deutschlands in der Welt“ sei.
Lange hat Grass – nach Erscheinen seines Debütromans „Die Blechtrommel“ 1959 zum international bekanntesten deutschen Gegenwartsautor avanciert – auf den Nobelpreis warten müssen. Als Heinrich Böll als erster westdeutscher Nachkriegsschriftsteller 1972 die höchste Literaturauszeichnung bekam, meinte der Kölner erstaunt: „Warum ich und nicht Grass?“ Als es 1999 dann so weit war, sagte der Sekretär des Nobelpreiskomitees, Horace Engdahl, in seiner Laudatio: „Das Erscheinen der ,Blechtrommel' bedeutete die Wiedergeburt des deutschen Romans des 20. Jahrhunderts.“ Die Oscar-gekrönte Verfilmung von Volker Schlöndorff schrieb Filmgeschichte.
Eine Auswahl wichtiger Werke von Günter Grass:
• „Die Vorzüge der Windhühner“ (1956): Sein erster Gedichtband enthält auch Zeichnungen. Später folgen die Lyrik-Werke „Gleisdreieck“ (1960) und „Ausgefragt“ (1967).
• „Die Blechtrommel“ (1959): Mit satirischer Überzeichnung und grotesker Verzerrung setzt sich Grass mit der Nazizeit auseinander. Das Werk wird später mit der Novelle „Katz und Maus“ (1961) und dem Roman „Hundejahre“ (1963) zur Danziger Trilogie zusammengefasst.
• „Die Plebejer proben den Aufstand“ (1966): In dem Drama widmet sich Grass dem Versagen der Intellektuellen beim Aufstand in der DDR 1953.
• „Örtlich betäubt“ (1969): Der Roman behandelt die Studentenrevolte.
• „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ (1972): Beschreibung des Bundestagswahlkampfs 1969, in dem Grass Willy Brandt (SPD) unterstützte.
• „Der Butt“ (1977): Grass zeichnet die Männerherrschaft von der Steinzeit bis ins Raketenzeitalter als Epoche der Gewalt und lässt sie in einem Frauentribunal enden.
• „Das Treffen in Telgte“ (1979): Die Erzählung versetzt ein Treffen der Schriftsteller-Gruppe 47 in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges.
• „Die Rättin“ (1986): Das Prosawerk thematisiert die düstere Zukunft der Menschheit.
• „Unkenrufe“ (1992): Die Erzählung beschreibt die politischen Annäherungsversuche zwischen Deutschland und Polen.
• „Ein weites Feld“ (1995): Der Roman spielt in der DDR in der Zeit zwischen dem Mauerbau und der deutschen Vereinigung.
• „Mein Jahrhundert“ (1999): In 100 Kapiteln entwirft Grass sein persönliches Panorama des 20. Jahrhunderts.
• „Im Krebsgang“ (2002): Thema der Novelle ist der Tod Tausender Flüchtlinge beim Untergang der „Wilhelm Gustloff“ im Mai 1945.
• „Beim Häuten der Zwiebel“ (2006): In der Autobiografie der Jugend-, Kriegs- und Nachkriegszeit bis 1959 bekennt Grass erstmals, als 17-Jähriger Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein.
• „Dummer August“ (2007): In sehr emotionalen, teils auch ziemlich polemischen Gedichten verarbeitet er die Reaktionen auf sein Waffen-SS-Eingeständnis. Grass empfand sie als mediale Hinrichtung.
• „Die Box“ (2008): Das autobiografische Buch porträtiert aus der Sicht seiner Kinder den berühmten Vater.
• „Unterwegs von Deutschland nach Deutschland“ (2009): Mit diesem 1990 geschriebenen Tagebuch will Grass 20 Jahre nach dem Mauerfall die Fehler der deutschen Einheit aufzeigen.
• „Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung“ (2010): Das Buch erzählt das Leben der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm im 19. Jahrhundert. Dabei findet Grass immer wieder Parallelen zu seinem Leben.
• „Was gesagt werden muss“ (2012): In dem Gedicht, das als Aufruf gedacht ist und in Zeitungen veröffentlicht wird, warnt der Autor vor einem atomaren Erstschlag Israels gegen den Iran. Der jüdische Staat gefährde den Weltfrieden.
• „Eintagsfliegen“ (2012): Der Gedichtband enthält 87 Texte, sehr persönliche, aber auch politische – auch eine Liebeserklärung an Deutschland („Trotz allem“). In dem Gedicht „Ein Held unserer Tage“ lobt Grass einen in Israel zu 18 Jahren Haft verurteilten Atomtechniker als „Held“ und „Vorbild“, der das Nuklearprogramm Israels publik machte, und verärgert damit die Regierung in Tel Aviv aufs Neue. Text: dpa