
Was hat die grübelnde „Melencolia I“ mit einer Nähmaschine zu tun? Die neue Ausstellung im Nürnberger Germanischen Nationalmuseum mit dem Titel „Tagträume – Nachtgedanken“ spannt einen Bogen von der Albrecht-Dürer-Grafik der Renaissance über schaurig-belebte romantische Naturbildern zu surrealistischen Bildern von Max Ernst und Fotografien von Man Ray. Fantasie und Alpträume, Schatten und Monster verbinden die Künstler der frühen Neuzeit mit denen des 20. Jahrhunderts.
Gruselig, welche Ungeheuer, Mischwesen aus Vogel und Mensch oder Fische mit Beinen, auf den Blättern von Jacques Callot (1592 bis 1635) oder Lucas Cranach des Älteren (1472 bis 1553) schweben und hüpfen. Figuren mit Zotteln und Flügeln, Krallen und Reptilienschwänzen, dazu Fledermäuse mit Lanzen und Prügeln symbolisieren die Höllenqualen oder Versuchungen. Zur Illustration reformatorischer Traktate schufen Künstler der damaligen Zeit Monster oder stellten einen Schlund aus spitzen Zähnen dar, der Satan und Papst zugleich symbolisiert. Ein Flugblatt aus dem Jahr 1521 warnt vor den wichtigsten Gegnern Martin Luthers, die mit Schweine-, Katzen- oder Hundeköpfen dargestellt sind.
Die Sache mit der Nähmaschine
Doch nicht diese politische Agitation ist es, die die neue Ausstellung interessiert, sondern der Stammbaum der skurrilen Wesen und der gespenstischen Natur, der Abbildungen der dunklen Seiten der Seele. Vom 15. Jahrhundert führen die 130 Werke bis zur modernen Kunst – zu Hanna Höch, Paul Klee oder Picasso – und zeigen, dass die Symbolik des Dämonischen wiederholt und angepasst wird. Einer von vielen Belegen: Der Nürnberger Stich von Martin Weigel aus dem Jahr 1569 zeigt die „Personifikation der Landwirtschaft“ – eine menschliche Gestalt, konstruiert aus Körben, Würsten, Sensen und Maschinen. „Fisch, Mensch und Stern“ ist der Titel des modernen Gegenstücks dazu. In der Kreidezeichnung des Surrealisten André Masson (1896 bis 1987) erahnt man einen Mann, der mit fliegenden Schritten davongeht.
Figuren aus geometrischen Körpern, offenen Würfeln, Kuben und Zylindern lassen kaum zweifeln: Die Stiche von Giovanni Battista Bracelli (ca. 1616 bis 1649) müssen Pate für Salvador Dalís „Schubladen“-Wesen gestanden haben. Des gleichen Motivs bedienten sich aber auch Pablo Picasso oder Paul Klee.
Um derlei Zusammenhänge herzustellen, hat Ausstellungskuratorin Yasmin Doosry alte und moderne Kunst im Fundus des eigenen Hauses gefunden. Beinahe 80 Prozent der 130 gezeigten Ausstellungsstücke, Druckgrafiken, Zeichnungen, Fotografien oder Collagen stammen aus Nürnberg. Andere Werke, wie den „Papagei“ von Joan Miró, hat die Fundacíon Juan March in Madrid beigesteuert. Beim Kooperationspartner wird die Ausstellung von Oktober 2013 bis Januar 2014 zu sehen sein. Das Rätsel mit der Nähmaschine löst sich mit dem Besuch der Ausstellung – wirft aber auch neue Fragen auf. Denn der absurde Satz eines Dichters „Wie eine zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf dem Seziertisch“ war den Surrealisten eine Art Schlüssel. Der Satz ist wie die surrealistische Kunst: Sie klopft beim Unterbewusstsein des Betrachters an, regt seine Fantasie, bleibt aber rätselhaft, weil sie die Wirklichkeit austauschen möchte. Ebenso ist Dürers Melencolia, von Fledermaus, verhungertem Hund, geometrischem Werkzeug und einem Putto umgeben, ein Kunstwerk, das sich bis heute nicht entschlüsseln lässt. Text: epd
Öffnungszeiten: Dienstag, Donnerstag bis Sonntag 10-18, Mittwoch 10-21 Uhr. Bis 3. Februar.