Alles sieht so aus, wie das Gehirn es aus der Alltagserfahrung abgespeichert hat: Menschen, Tiere, Dinge. Doch: Je mehr der Betrachter sich in die Bilder vertieft, umso mehr Dimensionen entfalten sich. Und auf einmal ist ein Mensch nicht mehr nur ein Mensch. Er vereint ein Bündel an Bedeutungen. Und dieser Pelikan, der sich das eigene Fleisch aus der Brust reißt? Irgendwo im Hintergrund scheint es geheimnisvolle Zusammenhänge zu geben – und zwar andere als in der erlebten Wirklichkeit. Irgendwann ist auf den so simpel wirkenden Bildern nichts mehr, wie es scheint.
Barocke Bilder entwickeln einen eigenen Sog. Menschen, Tiere, manchmal auch Dinge bedeuten meist mehr, als der erste Blick verrät: Es sind Allegorien. Das macht die Kunst jener Tage so faszinierend. 50 Grafiken lassen im Würzburger Martin-von-Wagner-Museum den Geist der Zeit zwischen dem späten 16. und der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lebendig werden.
Eine Allegorie stellt abstrakte Begriffe bildlich dar. Seit der Antike wird auf diese Weise Bedeutung transportiert. Doch im Barock waren die Künste – auch Musik und Literatur – geradezu versessen darauf, Aussagen zu verschlüsseln und hinter der Oberfläche zu verstecken: Ein Gerippe steht für den Tod; eine Frau mit verbundenen Augen, die in einer Hand eine Waage, in der anderen ein Schwert hält, verkörpert Justitia, die Gerechtigkeit; ein nackter Mann mit reifen Ähren im Arm ist der personifizierte Sommer. Alles noch heute nachvollziehbar. Aber der Pelikan?
Der füttert mit dem Fleisch aus der eigenen Brust seine Kinder. „Ein Symbol für die Caritas“, erklärt Eckhard Leuschner. Der Professor für Kunstgeschichte an der Würzburger Universität steht vor einem Kupferstich von Matthäus Greuter (1566 bis 1638). Zu dessen Lebzeiten war die Pelikan-Allegorie gebräuchlich. Sie rührt von einer alten christlichen Legende her und zeigt, wie ein Bild mit der Weltsicht einer Epoche, einer Gesellschaft, aufgeladen werden kann. Der Wasservogel wurde zum Symbol für Aufopferung und Hingabe. „Wer sich damals eine Kunstsammlung leisten konnte, also die Oberschicht, verstand das“, sagt Leuschner.
Viele allegorische Darstellungen tragen einen erklärenden Text. Der ist allerdings lateinisch. Auch ihn verstanden nur Gebildete.
Eckhard Leuschner ist Herausgeber des soeben erschienenen vierbändigen Katalogs zum Werk der Greuter-Dynastie (in der Reihe „New Hollstein German“). Damit wird die weitverzweigte Künstler-Familie erstmals umfassend wissenschaftlich aufgearbeitet. Von den Greuters stammen auch die meisten Bilder der Ausstellung.
Zeichnungen für Galilei
Matthäus Greuter, Stammvater der Dynastie, lebte in der Morgendämmerung des Barock. Seine Karriere als Kupferstecher begann er 20-jährig in seiner Geburtsstadt Straßburg. Er produzierte Bilder nach Vorlagen anderer Künstler – nicht immer mit deren Erlaubnis, doch Urheberrecht war an der Wende zum 17. Jahrhundert kein großes Thema. Die Grafiker gingen eher lässig mit Kompositionen anderer Künstler um. So hat Matthäus Greuter einen Jahreszeiten-Zyklus einfach eins zu eins auf die Kupferplatte übertragen – die das Bild dann natürlich seitenverkehrt druckte.
Über Lyon und Avignon kam Matthäus Greuter 1603 nach Rom. Er machte sich einen Namen, arbeitete mit berühmten Künstlern wie Gianlorenzo Bernini oder Guido Reni zusammen, fertigte wissenschaftliche Zeichnungen für Galileo Galilei. Das Bild des Petersdoms wurde maßgeblich durch Stiche aus der Greuter-Werkstatt in Europa verbreitet. Matthäus Greuter, der sich in Italien Matteo nannte, druckte auch einen Stadtplan von Rom, der als einer der wichtigsten des 17. Jahrhunderts gilt.
Die Greuter-Werkstatt, die von Sohn Johann Friedrich (Giovanni Federico) weitergeführt wurde, war bis weit in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts gut im Geschäft. „In Rom war der Bedarf an Drucken groß“, erklärt Professor Leuschner. Heute sind neben einigen Zeichnungen von Matthäus Greuter rund 600 Kupferstiche bekannt, von Johann Friedrich 200. Viele davon bewahrt die Graphische Sammlung des Martin-von-Wagner-Museums auf. Die Qualität der Arbeiten ist durchaus schwankend: Wer mehr bezahlen konnte oder wollte, erhielt Besseres. Drucke mussten von den kirchlichen Autoritäten genehmigt werden. Was indirekt dazu führte, dass es in Rom vor allem kleinere Druckereien gab: „Die ließen sich leichter überwachen“, so Leuschner.
Die Auflagen waren überschaubar. Mehr als einige Hundert Abzüge gebe eine Kupferplatte nicht her, sagt der promovierte Kunsthistoriker.
Greuters Haupteinnahmequellen waren Buchillustrationen. „Ein wichtiges Produkt waren auch Thesenblätter“, erklärt Leuschner. Damals feierten Studenten die abschließende Disputation wissenschaftlicher Arbeiten. Greuter druckte die Einladungen ebenso wie die Thesenblätter, die bei dem Fest wie Souvenirs verteilt wurden. Sie trugen neben dem Titel der Arbeit und dem Autorennamen ein allegorisches Bild der These.
Matthäus Greuter betrieb in Rom auch einen kleinen Laden, in dem er seine Drucke verkaufte. „Man muss sich das wohl als erweiterten Bücherladen vorstellen“, vermutet Professor Leuschner. Die Greuter-Werkstatt arbeitete also nicht nur im Auftrag, sondern auch auf eigene Rechnung – marktorientiert, würde man heute sagen. Die Arbeiten sind auch deswegen nah am Zeitgeist und muten nahezu wie Prototypen barocker Denkweise an – für den modernen Menschen, der, Smartphone-süchtig, immer gleich alles und möglichst schnell erfassen will, ebenso faszinierend wie verwirrend. Und auch ein bisschen beunruhigend: Wer weiß schon, ob nicht nur Bilder, sondern auch die Wirklichkeit von geheimnisvollen Zusammenhängen gesteuert werden . . .
„Die Greuters – Europäische Künstler und Verleger der Frühen Neuzeit“ im Martin-von-Wagner-Museum Würzburg (Residenz-Südflügel). Öffnungszeiten: Dienstag bis Samstag und Sonntag, 22. Mai 10 bis 13.30 Uhr. Bis 28. Mai.