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FERNSEHEN
Fröhliche Fatalisten: "The Big Bang Theory"
In Serie: In einer Reihe von Artikeln beschäftigen wir uns feuilletonistisch mit alten und neuen Fernsehserien. Heute: „The Big Bang Theory“ oder Geist ist geil.
Nerd-Quartett mit heißer Blondine: Sheldon (Jim Parsons), Leonard (Johnny Galecki), Penny (Kaley Cuoco), Howard (Simon Helberg) und Raj (Kunal Nayyar).
Foto: Warner Bros./Cinetext | Nerd-Quartett mit heißer Blondine: Sheldon (Jim Parsons), Leonard (Johnny Galecki), Penny (Kaley Cuoco), Howard (Simon Helberg) und Raj (Kunal Nayyar).
Von unserem Redaktionsmitglied Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 09.10.2016 16:54 Uhr

Es sieht aus, als gäbe es für die moderne Gesellschaft nichts Bedrohlicheres als wahre Expertise. Sobald einer wirklich etwas von etwas versteht, ist er all denen suspekt, die sich bestenfalls mit Halbwissen durchs Leben mogeln. Amerika hat dafür den Begriff Nerd erfunden, und Europa hat sich gar nicht erst die Mühe gemacht, ihn zu übersetzen. Ahnherr aller Nerds ist Cary Grant als schusseliger Paläontologe in „Leoparden küsst man nicht“. Damals hieß das noch Screwball, was nicht sehr viel schmeichelhafter war.

Waren mit dem Schimpfwort Nerd anfangs vor allem picklige Halbwüchsige gemeint, die im Keller oder in der Garage ihres Elternhauses unbegreifliche Dinge mit ihren Computern anstellten (deren Folgen im Übrigen gerade dabei sind, die Welt radikal zu verändern), so kann es heute Kundige auf jedem Gebiet ereilen. Wobei das noch nicht einmal echte Experten sein müssen. Es reicht völlig, wenn man zum Beispiel weiß, dass der Name Raffaello nicht schon immer zuallererst für eine Süßigkeit stand, oder dass Bach und Beethoven einander nie begegnet sind.

Die Serie „The Big Bang Theory“, die es in den USA bislang auf sechs Staffeln gebracht hat (läuft bei uns auf ProSieben), ist eine Hommage an den Nerd. Vordergründig lacht der Zuschauer über die Verschrobenheiten von vier jungen Physikern, doch im Spiegel von deren immer neuem Scheitern im sogenannten Alltag entlarvt Schöpfer Chuck Lorre („Grace“, „Cybill“, „Dharma und Greg“, „Two and a Half Men“, „Mike & Molly“) vielmehr die Welt der Ungebildeten, der Desinteressierten, der Faulen und der Oberflächlichen.

Dr. Leonard Hofstadter (Johnny Galecki) und Dr. Sheldon Cooper (Jim Parsons), einer experimenteller, der andere theoretischer Physiker an der Uni von Los Angeles, leben in einer WG zusammen. Leonard ist im normalen Leben ein argloser Melancholiker, Opfer eines intellektuellen Elternhauses, das ihn mit wissenschaftlicher Unbestechlichkeit und ohne jegliche menschliche Wärme großgezogen hat. Sheldon ist ein zwanghafter Pedant an der Grenze zum Autismus, der als Genie in eine texanische Durchschnittsfamilie geboren wurde. Seine Mutter ist heilfroh, dass ihre anderen Kinder „dumm sind wie Brot“. Der eine wünscht sich nichts mehr als eine glückliche Beziehung zu einer Frau, der andere ist vollkommen darauf angewiesen, dass es keinerlei Abweichungen in seinem minutiös durchorganisierten Wochenplan gibt.

Während Leonard als Kind seine Hochbegabung nutzte, um sich eine Maschine zu bauen, die ihn in den Arm nahm, konstruierte der kleine Sheldon gleich einen Computertomografen. Der tatsächlich funktionierte. Jedenfalls wurde das Innere des Familien-Meerschweinchens tatsächlich kurz sichtbar, bevor es in Flammen aufging . . .

Leonards und Sheldons Freundeskreis beschränkt sich auf den Ingenieur Howard Wolowitz (Simon Helberg) und den indischen Astrophysiker Rajesh Ramayan „Raj“ Koo-thrappali (Kunal Nayyar). Howard konstruiert Dinge wie die Toilette der Raumstation ISS und ist ansonsten ein notorischer Anbaggerer. Er lebt bei seiner Mutter, deren einzige Sorge es ist, dass er endlich ein nettes jüdisches Mädchen heimbringt.

Raj wiederum bringt in der Gegenwart von Frauen kein Wort heraus (zumindest in nüchternem Zustand), was aber im Grunde nur eine Variante der Sprachlosigkeit ist, die die Jungs dem anderen Geschlecht gegenüber plagt. Mit einer Ausnahme: Sheldon ist auch Männern gegenüber hilflos, weil er keinerlei Sinn für Ironie oder gar Sarkasmus hat. Er unterwirft jede menschliche Interaktion einer strengen wissenschaftlichen Analyse, in der Kategorien wie Empathie oder Intuition nicht vorkommen. Ironischerweise entpuppen sich seine Analysen nicht selten als tragfähiger als die ungelenken Versuche der anderen, sich nach den bestenfalls halbverstandenen Regeln der Normalos zu verhalten.

Und dann kommt Penny: Penny (Kaley Cuoco) zieht gegenüber von Leonard und Sheldon ein und wird so etwas wie ein Realitätsanker für die Nerds. Die ziemlich heiße Blondine aus Nebraska arbeitet als Bedienung, träumt aber wie unzählige andere ziemlich heiße Blondinen in L.A. von einer Filmkarriere. Penny ist warmherzig, witzig und in Herzensdingen nicht wesentlich erfolgreicher als die Jungs, wenn auch aus anderen Gründen.

Der Titel „Big Bang Theory“ ist bewusst zweideutig. Da ist einerseits die Entstehung des Universums, die Leonard, Sheldon, Howard und Raj erforschen. Und da ist der Traum vom ganz großen Sex, wie ihn mutmaßlich immer nur die Anderen haben. Dass dem durchaus nicht so ist, merken sie nicht, schließlich unterhalten sie zu deren Welt nur sehr dünne, brüchige Verbindungen.

Wo die Normalos aber nur dumpf scheitern – aus Gleichgültigkeit, Dummheit, Egoismus –, bleibt den vier Physikern immerhin die Gabe des geistreichen Galgenhumors. In der Königsdisziplin des fröhlichen Fatalismus tut es ihnen keiner gleich. Vielleicht werden sie eines Tages entschlüsseln, wie alles entstand – das Leben, das Universum und der ganze Rest, um es mit Douglas Adams zu sagen. Wie man sich aber auf einer Party verhält, ohne sich völlig zu blamieren, das wird ihnen für alle Zeiten ein Rätsel bleiben. Und das ist unglaublich liebenswert.

 
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