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NEW YORK
First Lady des Protest-Folk: Joan Baez wird 75
Joan Baez: Sie sang mit „We shall overcome“ die Friedenshymne schlechthin. Und Amnesty International ernannte sie zur Botschafterin des Gewissens. Am 9. Januar wird Joan Baez 75 Jahre alt.
Von unserem Mitarbeiter Olaf Neumann
 |  aktualisiert: 03.12.2019 08:53 Uhr

Vier Jahrzehnte lang war sie die First Lady der Friedensbewegung und des Protest-Folk. Joan Chandos Baez, geboren am 9. Januar 1941 in Staten Island/New York, scheute keinen Konflikt und fühlte sich für alles und jeden verantwortlich. 1959 wird sie beim Newport Folk Festival entdeckt. Ein Jahr später erscheint ihr Debütalbum „Joan Baez“. 1963 marschiert sie beim „Civil Rights March“ in Washington an der Seite ihres Vorbilds Martin Luther King. Die strittige Linke gründet und finanziert mehrere Schulen für Gewaltlosigkeit und wird zu einer nimmermüden Bürgerrechtlerin. 1979 ruft sie die Menschenrechtsorganisation „Humanitas International Human Rights Committee“ ins Leben. Während der ersten „Intifada“ singt sie in der Westbank und im Gazastreifen. 1989 unterstützt sie die friedliche Revolution in Prag.

Die US-amerikanische Regierung stuft die Protestsängerin als Sicherheitsrisiko ein und steckt sie für 45 Tage ins Gefängnis. Ihre Platten werden aus den Läden verbannt. Trotzdem kommt ihre von der Lehre Gandhis beeinflusste Botschaft bei den Leuten an. Baez ist ausgestattet mit der Dickköpfigkeit eines Menschen, der im Sternzeichen des Steinbocks geboren wurde. Zudem sind ihre Protestsongs einprägsam und werden von allen Schichten der Bevölkerung verstanden. Ihr ehemaliger Lover Bob Dylan wurde erst dadurch bekannt, dass er ihre Lieder sang.

Nach außen wirkt die sanfte Kämpferin stets zuversichtlich. Selbst dann noch, als ihr Ehemann und Mitstreiter David Harris zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt wird. Tatsächlich aber ist die Ikone des Folk die meiste Zeit ein psychisches Wrack: Panikattacken, Schlaflosigkeit, Phobien. Die 1970er verbringt sie abwechselnd mit Therapien und Tourneen. In den 1980ern fehlt es den Platten der aufrechten Friedenskämpferin immer mehr an Ausdruckskraft und Intensität. Am Ende sucht sie sich ein Refugium in der Natur, um dort ihre innere Stimme wiederzufinden.

Zehn Jahre lang bringt sie keinen neuen Song zu Papier: Schreibblockade. Statt zu resignieren, schart sie in den 1990er Jahren jüngere Leute um sich: Filmemacher Michael Moore, Sänger und Songschreiber Steve Earle, Rage-Against-The-Machine-Chef Tom Morello oder Arrangeur George Javori. „Diese Leute betrachten die Welt mit jüngeren Augen“, erklärt die gereifte Sängerin mit dem klaren Tremolo. „Das war mir sehr wichtig, denn ich wollte für eine gewisse Zeit in diese Generation hineinschlüpfen.“ Nach Ausflügen in den Rock ist sie inzwischen wieder zu ihren Wurzeln zurückgekehrt. Ihren Akustik-Sound bezeichnet sie als „morphologischen Folk“. „Ich würde doch lächerlich klingen mit einer Rock-?n'-Roll-Band im Rücken“, glaubt sie.

Ihre späte Sinnkrise meistert die jugendlich wirkende Großmutter unter anderem mit schwarzem Humor. Er äußert sich in Form von schauerlichen Mörderballaden. „Diese Art Songs habe ich bereits ganz am Anfang meiner Karriere gesungen“, erzählt sie und bricht in schallendes Gelächter aus. „In meinen Balladen ist fast immer jemand gestorben. Für mich ist es ein pures Vergnügen, dunkle Lieder zu singen.

Denn das Publikum ist total in diese Geschichten involviert. Man kann seine Gedanken wunderbar schweifen lassen – bis es einen plötzlich mit der geballten Faust erwischt.“

Noch heute nimmt ihre Stimme gefangen durch dieses volle, warme Vibrato. Joan Baez ist zwar mit sich selbst wieder im Reinen und will definitiv keine Protestsängerin mehr sein, aber sie nimmt immer noch kein Blatt vor den Mund: „Die jungen Leute wissen gar nicht mehr, wofür sie sich einsetzen sollen, weil überall alles schiefläuft.“ Das politische Interesse will sie Spätgeborenen nicht absprechen, aber sie vermisst bei der Occupy-Bewegung zum Beispiel die unterstützenden Hymnen. „Wo bleibt ein ,Imagine‘ oder ein ,Blowin' in the Wind‘!?“ Deshalb will sie sich von den kämpferischen Songs nicht ganz lösen; Dylan-Klassiker wie „It?s all over now, Baby Blue“ und „Farewell, Angelina“ sind fester Bestandteil ihres Konzertprogramms.

Jedoch hält sie diese Songs nicht mehr für relevant im politischen oder gesellschaftlichen Sinn. Ihr sei es auch nie darum gegangen, mit Liedern Menschen anzuleiten. Stattdessen habe sie immer gehofft, dass ihr Leben ein Beispiel für andere sein könnte. Sich selbst sieht sie nicht als Idealistin, sondern als Realistin. „Ich habe die Welt schon als junger Mensch sehr nüchtern betrachtet“, sagt sie. „Mir war immer klar, welche Schäden der amerikanische Lebensstil andernorts anrichtet. Die quasireligiöse Überhöhung von Konkurrenz auf allen Gebieten ist schlimm“. 2004 trafen Baez und Dylan wieder aufeinander, als beide für ihr Engagement in der Anti-Vietnamkriegsbewegung mit dem World Peace Music Award ausgezeichnet wurden.

Im Weißen Haus bei den Obamas

Das Alter hindert die beiden nicht daran, weiter um die Welt zu tingeln. Wie oft kreuzen sich die Wege des einstigen Traumpaars der Folkbewegung? „Komischerweise kommt das nur ganz selten vor“, wundert sich Baez. „Wenn es einmal passiert, dann sagen wir Hallo, unterhalten uns eine Weile und lachen.“ Zuletzt geschah dies 2010 im Weißen Haus. Präsident Barack und First Lady Michelle Obama präsentierten dort einen Abend mit Musik aus der Ära der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung.

Neben Baez und Dylan standen John Mellencamp, Smokey Robinson, Seal und die Blind Boys Of Alabama auf der Bühne. Nicht nur an diesem Tag sprühten Baez‘ Augen wie bei einem Teenager. Ihr Gedächtnis ist phänomenal, praktisch zu jedem signifikanten Ereignis in der amerikanischen Politik seit den frühen 1960ern kann sie auf Knopfdruck die Namen der beteiligten Personen nennen oder darlegen, welche Rolle sie selbst dabei spielte.

„We shall overcome“ (deutsch: Wir werden es überwinden) singt Baez heute kaum noch. Sie möchte vermeiden, zur Fahnenträgerin der Nostalgie zu werden. „Es nervt mich, wenn ich als Legende abgestempelt werde. Werde ich mit jener Zeit in Verbindung gebracht und gleichzeitig als lebendige, frische Künstlerin wahrgenommen und respektiert, kann ich damit gut leben“, erklärt sie.

In Bad Brückenau gibt Joan Baez am 23. Juli ein Open-Air-Konzert im Schlosspark.

 
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