In Minnesota ist immer Winter. Zumindest, wenn die Coen-Brüder dort einen Film spielen lassen. Oder eine Serie. Ethan und Joel Coen stammen aus Minnesota, also müssen sie es wissen. 1996 haben sie ihrem Heimatstaat mit „Fargo“ ein sehr schräges Denkmal gesetzt. Ein tiefverschneiter Krimi mit skrupellosen Bösen und arglosen Guten. In dem dann doch die Guten gewinnen, und das noch nicht mal aus Versehen.
Die Fernsehserie „Fargo“ knüpft an den Film an, im Abspann jeder Folge firmieren die Coen-Brüder als Produzenten. Tatsächlich stammt die Idee von dem Produzenten, Regisseur, Drehbuch- und Romanautoren Noah Hawley. Hawley gelingt es von der ersten Szene an, die höchst eigenartige Atmosphäre des Films in die Serie zu transportieren.
Der Film spielt 1987. Die Serie stellt die Verbindung in einer Rückblende her, als ein völlig verzweifelter Grieche den Geldkoffer findet, den Bösewicht Carl (Steve Buschemi) in einer Schneewechte versteckt hatte. Die Stelle hatte er mit einem roten Eiskratzer markiert. Es ist dieser Eiskratzer, der in der Serie als Erstes auftaucht: eingerahmt an der Wand vom dankbaren Finder. Eine brillante Anspielung für Fans.
Wie gesagt: In Minnesota herrscht immer Winter. Die brettelebene Landschaft ist tief verschneit, in den Städten stapfen vermummte Gestalten von Haus zu Haus, über die weißen Highways rollen die Autos mit majestätischer Vorsicht. Oder landen in Schneewehen, werden zurückgelassen, um der Polizei Rätsel aufzugeben. Wie im Film, so ist der verschneite Highway auch in der Serie eine ironisch offensichtliche Metapher für Vorwärtskommen oder Scheitern.
In Minnesota geht alles ein wenig langsamer, weil alle ein wenig freundlicher sind. Oder tun. Doch dieses Zusammenrücken in der Kälte ist eine Täuschung. Im Gegenteil: Es scheint, als konserviere der Winter geradezu die Gemeinheit. Der Bully aus der Highschool bleibt auch als Erwachsener dein Peiniger.
Das muss auch Lester Nygaard erfahren. Lester ist ein kleines Würstchen in einem schäbigen Versicherungsbüro, seine Frau peinigt ihn mit seiner Erfolglosigkeit und dem Erfolg seines Bruders. Eines Tages bricht ihm sein alter Widersacher aus der Schule auf der Straße die Nase – einfach so. Lester landet im Krankenhaus und trifft im Wartezimmer Malvo, einen Auftragskiller auf der Durchreise, der mit seinem (oder besser: mit einem geklauten) Wagen in einer Schneewehe gelandet ist und eine Kopfwunde erlitten hat.
Malvo zieht Lester die Geschichte seiner Verletzung aus der Nase, bietet an, den Bully umzubringen, und tut das dann auch – einfach so. Weil er es kann, und weil so sein Beruf auch mal im Privatleben nützlich ist.
Im kriminalistischen Sinne ist der Mord nicht wichtig. Keiner der Morde in „Fargo“ ist kriminalistisch wichtig, und es gibt ziemlich viele Morde in „Fargo“. Lester erschlägt im Affekt seine Frau, Malvo erschießt ziemlich viele weitere Personen, andere Killer jagen deshalb Malvo und bringen dabei ein paar mehr Leute um.
Die Polizei rafft es einfach nicht. Chief Bill Oswald, ins Amt gekommen, weil Malvo seinen ziemlich cleveren Vorgänger umgebracht hat, geht von zufälligen Verbrechen umherziehender Ganoven aus – einfach so. Bob Odenkirk, der in „Breaking Bad“ den genialen Winkeladvokaten Saul Goodman spielt, gibt den feigen Trottel Bill mit sichtlichem Genuss als Prototypen des unfähigen Vorgesetzten.
Nur die junge Polizistin Molly Solverson (Allison Tollman), bis hin zur Schwangerschaft das Gegenstück zu ihrer Filmvorgängerin Marge Gunderson (Frances McDormand), entwirrt mit freundlicher Hartnäckigkeit gegen Bills Widerstand nach und nach das Gewirr der Beziehungen, Motive und Abläufe. Aber Mollys Scharfsinn behindert die Bösen nicht sehr. „Fargo“ ist auch ein Krimi, aber nicht nur. „Fargo“ ist so etwas wie Welttheater auf vereister Bühne. Schon Malvos Name könnte eine Anspielung auf die Shakespeare-Figur Malvolio sein, einen puritanischen Moralapostel und mehr oder weniger bösartigen Spielverderber, mit dem niemand etwas zu tun haben will. Für den Malvo in „Fargo“ ist die menschliche Gemeinschaft ebenso unerreichbar, wenn auch aus genau gegenteiligen Gründen. Ein schönes Coen'sches Paradoxon jedenfalls.
Man könnte auch sagen, „Fargo“ ist wie Patricia Highsmith, verfilmt von den Coen-Brüdern. Die Unausweichlichkeit der Verwicklungen, die Mitleidlosigkeit der Darstellung, die Logik der Skrupellosigkeit. Die wichtigste Parrallele zwischen Coen/Hawley und Highsmith aber ist das vollkommene Fehlen eines Sühnegedankens. Lester Nygaard ist ein typischer Verlierer. Grundsätzlich müsste ihm die Sympathie des Zuschauers gelten. Doch Lester entpuppt sich als ziemlich gemeiner Kerl, der es ziemlich schnell schafft, sein Gewissen abzuschalten. Nicht nur in dieser Hinsicht ist er ein würdige Nachfolger des talentierten Mr. Ripley.
Mit Martin Freeman spielt ein weiterer Brite eine herausragende US-Serienrolle. Freeman ist in „Sherlock“ an der Seite von Benedict Cumberbatch ein prinzipientreuer Watson und in der sinnlos ausufernden Trilogie „Der Hobbit“ in der Titelrolle der einzige Lichtblick. In „Fargo“ zeichnet er einen Mann, der die Verschlagenheit als einzige Begabung an sich entdeckt. Großartig, wie in seiner Mimik letzte Reste von Mitgefühl, reflexhafte Scheinheiligkeit und die unbezähmbare Sehnsucht nach ein bisschen Größe miteinander kämpfen.
Da braucht es schon einen Widersacher vom Format eines Billy Bob Thornton als Malvo. Malvo lebt vom Töten, und das klappt so gut, weil er die Menschen manipulieren kann. Mit seiner Stimme, seinen Augen, seinem Willen. Meist knallt er seine Opfer ab und spaziert davon – einfach so. Das kann schon mal ein ganzes Mafia-Hauptquartier sein, während draußen zwei tumbe FBI-Agenten nichts mitbekommen. Hinterher kann sich sowieso niemand mehr an Malvo erinnern.
Thornton spielt einen Außenseiter, der im richtigen Moment die Illusion der Zugehörigkeit anknipsen kann und damit unsichtbar und beinahe allmächtig wird. Thornton als Malvo ist ein beängstigend effektiver Manipulator, den sympathisch zu finden sich der Zuschauer aktiv versagen muss.
Lesen Sie in der nächsten Folge: „Vorstadtweiber“ oder Housewives treffen Kottan.