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SCHWEINFURT
Fanzine "Der kosmische Penis" feiert: Mehmet Scholl als Jubiläumspate
Mathias Wiedemann
 |  aktualisiert: 16.12.2021 11:40 Uhr

Wer lange genug durchhält, standhaft jeden vermeintlichen letzten Schrei ignoriert, sich selbst und seiner Sache treu bleibt, kurz: Wer keine Angst davor hat, irgendwann als Überbleibsel oder Anachronismus abgetan zu werden, der hat reelle Chancen, irgendwann seinerseits auf einmal wieder richtig hip zu werden. Weil eben all die letzten Schreie inzwischen verstummt oder zum Hintergrundrauschen abgeflaut sind.

In Schweinfurt erscheint seit 1987 meist dreimal jährlich ein Fanzine, das in jeder Hinsicht als Anachronismus gelten muss. 84 Seiten auf kopierten, zusammengehefteten DIN A4-Blättern in Schwarz/Weiß. Handpaginiert, teilweise handgeklebt, hin und wieder sogar handschriftlich befüllt, ansonsten jede Menge verschiedener Schriftarten, grobkörnige Bilder. Internetauftritt oder Facebookseite Fehlanzeige. Alles streng analog.

Live-Sendung im Zündfunk

Und doch: „Der kosmische Penis“ (Untertitel: „Das Organ der freien Jugend“) wird demnächst 100 – so zumindest der bewusst irreführende Slogan. Am 24. November erscheint die 100. Ausgabe, das Fanzine feiert im kleinen Saal des Schweinfurter Stattbahnhofs, ab 19 Uhr mit einer einstündigen Live-Sendung des Zündfunks auf Bayern2 mit Moderator Achim Bogdahn, danach dann ohne Radio mit alten Weggefährten, Autoren, Zeichnern und Musikern wie Matze Rossi oder Karo.

Die Macher des Blatts: Jimij Günther, Geschäftsführer des Schweinfurter Kulturpackt, der Ereignisse wie die Nacht der Kultur oder das Straßenmusikfestival Pflasterklang veranstaltet, und Wolfram Hanke, Reporter beim Bayerischen Rundfunk, beide längst Familienväter, beide über 40 beziehungsweise über 50.

Der Inhalt: Neues aus der Heimat, Satire, Szeneklatsch und Musikkritik – mit fließenden Grenzen. „Wir sind schon immer eine Plattform für alle Leute, die was schreiben wollen“, sagt Jimij Günther. „Was nicht rechts ist, nicht langweilig und nicht ganz schlecht geschrieben, kommt rein.“ Das kann die Reise-, Band- und Szene-Reportage aus Oslo sein oder das Update zu Andreas Kümmert. Das kann ein Bericht über die Zerstörung von herman de vries' Installation „Sanctuarium“ in Stuttgart sein, ein Essay mit dem Titel „Der Teufel hat das Internet gemacht“ oder die Würdigung kurioser Magazine, auf die sich eine Mitarbeiterin spezialisiert hat. Oder die Kolumne „Die Berührerin“, in der eine Ex-Schweinfurterin in Berlin von ihren Erlebnissen als Anbieterin erotischer Massagen berichtet.

Fundstücke aus allerhand Medien

Gerne arrangieren die Redakteure Fundstücke aus allerhand Medien zu schrägen Kollagen, etwa unter einer Überschrift wie „Beatles masturbierten gemeinsam ... und was Brigitte Bardot damit zu tun hatte“.

Immer spielt die Lokalpolitik eine Rolle – lange Jahre etwa der Kampf gegen das Atomkraftwerk Grafenrheinfeld, in letzter Zeit eher der gegen das Erstarken rechter Kräfte. Aber das Fanzine, inzwischen nach „Trust“ das zweitälteste in Deutschland, erfreut sich anhaltender Beliebtheit weit über Schweinfurt, Franken und Bayern hinaus und damit einer stabilen Auflage von 250 Exemplaren. Spezialisierte Internetplattformen verfolgen die Aktivitäten, eine rezensiert sogar jedes neue Heft. Etliche Indie-Labels decken die Redaktion unaufgefordert und hartnäckig mit Rezensions-CDs ein – „die finden das geil, weil es komplett analog läuft“, erzählt Hanke. „Alles andere würde unserem Punkrock-Status widersprechen“, ergänzt Günther.

Wolfram Hanke und Jimij Günther, die Chefreakteure des „Kosmischen Penis”.
Foto: Der kosmische Penis | Wolfram Hanke und Jimij Günther, die Chefreakteure des „Kosmischen Penis”.

Die Klatschkolumne ist nicht mehr so brisant wie früher

Nicht mehr ganz so brisant wie in den frühen Jahren ist die Klatschkolumne „Schlüsse & Küsse“, die anfangs vor allem enthüllte, wer auf welcher Party oder in welchem Backstage-Bereich mit wem rumknutschte. Oder mehr. Das konnte dann schon mal zu aufgestochenen Fahrradreifen bei Jimij Günther oder einer öffentlichen Heftverbrennung Verärgerter führen. „Heute müssten wir über Scheidungen oder ähnliches berichten“, sagt Hanke, „das wäre nicht so lustig“. Hin und wieder kommt dafür eine Todesmeldung.

Natürlich hat sich die Szene von einst längst aufgelöst beziehungsweise verjüngt. „Es gibt sie noch, aber das sind halt andere Leute“, sagt Wolfram Hanke. Dennoch: Weggezogene Schweinfurter, unentwegte Konzertgänger und nicht zuletzt viele Künstler und Musiker in ganz Deutschland schätzen den respektlosen Zugang des „Penis“ zu vielen Themen. „Es gab sogar mal einen Abonnenten in Indien. Weil Luftpost sehr teuer gewesen wäre, haben wir das Heft auf dem Landweg verschickt, über die Seidenstraße sozusagen“, erzählt Günther, „aber es ist nie angekommen“.

Der „Penis“ begann als Szeneblatt im Umfeld der Schreinerei

Mehmet Scholl, Pate der 100. Ausgabe des Schweinfurter Fanzines „Der kosmische Penis”.
Foto: Achim Bogdahn | Mehmet Scholl, Pate der 100. Ausgabe des Schweinfurter Fanzines „Der kosmische Penis”.

„Der Penis“, wie ihn die Fangemeinde nennt, begann als Szeneblatt im Umfeld des soziokulturellen Zentrums Schreinerei (das sich dann in Disharmonie und Stattbahnhof aufspaltete) und hat seine Anmutung zwischen Schülerzeitung und Untergrund-Kampfblatt nie abgelegt, auch wenn inzwischen einige Beiträge am PC geschrieben und per Mail angeliefert werden. Die Namensfindung übrigens ist ein wenig kompliziert, aber nicht halb so spektakulär, wie man meinen könnte: „Das hatte keinen sexuellen Bezug, es war einfach nur ein schönes Wort, das hängen bleiben sollte“, sagt Jimij Günther.

Jedes Heft hat einen möglichst prominenten Paten, der nichts weiter zu tun hat, als mit der aktuellen Nummer für ein Foto zu posieren, das dann auf der letzten Seite der folgenden Nummer erscheint. „Es hat noch nie jemand abgelehnt“, sagt Wolfram Hanke. Der erste war Alex Kapranos, Sänger und Gitarrist von Franz Ferdinand. Es folgten viele andere, Claudia Roth etwa, Campino, Konstantin Wecker oder Matthias Egersdörfer. In der Jubiläumsausgabe wird es Mehmet Scholl sein.

Der Penis als gestalterisches Element

Der Penis, also die grafische Form, kommt als gestalterisches Element vor (stilisiert etwa in unterschiedlichen Stadien der Erregung zu den Bewertungen der CDs), vor allem aber in den vielen Einsendungen begeisterter Leser, die irgendwo auf der Welt auf penisähnliche Formen stoßen – die ältere Dame etwa, die in Italien in ein Restaurant geriet, das über und über mit Penissen dekoriert war, und sofort ein Bild schickte.

Die Marke „Penis“ ist vielseitig: In unregelmäßigen Abständen erscheint die „Penis-Kassette“ (inzwischen bei gleichem Namen auf CD), ein Mixtape mit Songs regionaler Bands oder welchen, die hier auftreten. Und einmal im Jahr veranstaltet das Fanzine den „Grand Prix de la Chanson de Penivision“, einen schrägen Liedermacherwettbewerb, bei dem es Penis-Trophäen aber auch das legendäre Leberwurschtbrot zu gewinnen gibt.

Der anarchische Spaß ist auch ein Archiv regionaler Jugendkultur

Jimij Günther, Moderator des „Grand Prix de la Chanson de Penivision”, hier die Ausgabe 2015.
Foto: Uwe Eichler | Jimij Günther, Moderator des „Grand Prix de la Chanson de Penivision”, hier die Ausgabe 2015.

Klingt vor allem nach anarchischem Spaß, das Projekt ist mit den Jahrzehnten dennoch zu einem soliden Archiv regionaler Jugendkultur angewachsen. „Niemand außer uns hat all diese Ereignisse so lückenlos dokumentiert“, sagt Jimij Günther. Was längst auch der Deutschen Nationalbibliothek aufgefallen ist, die darauf besteht, von jeder neuen Nummer zwei Exemplare zugeschickt zu bekommen, eins für Frankfurt, eins für Leipzig. „Wenn die mitbekommen, dass ein neues Heft erschienen ist, kommt sofort die Aufforderung, es zuzuschicken.“

Der kosmische Penis wird 100: Die 100. Ausgabe erscheint am 24. November. An diesem Tag ab 19 Uhr eine Stunde Livesendung des „Zündfunk“ des BR aus dem kleinen Saal des Schweinfurter Stattbahnhofs. Danach Fest mit mit Weggefährten, Autoren, Zeichnern und Musikern wie Matze Rossi oder Karo.

Penis-Verkaufsstellen: Immerhin, H2O und Cairo in Würzburg; Stattbahnhof und Buchhandlung Collibri in Schweinfurt; Musicland Bamberg.

 
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